Page 106 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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104 II. K apitel: Ruach, L ogos, G eist
Der Geist des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich ge
sandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen [...] (Lk 4, 18; Luther 1985)
Die Stationen der Verbrämung des ursprünglichen Begriffes „Ruach“96 machen die
semantische Geschichte des Wortes sinnfällig: von „ruach“ über „pneüma“ und
„spiritus“ zum „Geist“. Erst wenn man um diese Sedimentierung weiß, kann man
die Strömungen ermessen, aus denen sich der Johanneische Logos bei Philo
gleichsam unterirdisch mit semitischen Vorstellungen speiste. Am Logos des Jo
hannesevangeliums wiederum partizipiert Hölderlins messianische Mythogenese.
Die jüdische Weisheitslehre hat auf Hölderlin und die Frühromantiker ge
wirkt. Man denke nur an die Vorliebe Hegels für das Buch Hiob oder Schellings
spekulative Anverwandlung des Präexistenzdenkens in seiner Naturphilosophie
(Ideen zu einer Philosophie der Natur, 1797 und System des transzendentalen Idealis
mus, 1800).97 Jochen Schmidt hat gründlich nachgewiesen, inwieweit phiionisches
Gedankengut über die Schrift Hepi ütj/ouq („Uber das Erhabene“) des Pseudo-
Longinus, eines Anonymus aus dem 3. Jhd. n. Chr., auf das 18. Jahrhundert
gewirkt hat. Die Schrift hat die aufklärerische und klassische Geniedebatte maß
geblich beeinflußt (vgl. Vöhler 1992/93: 152-172). Die Affekttheorie des religiösen
Genies, das der hellenisierte Jude Philo in seiner Schrift Über die Trunkenheit
entwarf, vor allem aber das Oxymoron von der „nüchternen Trunkenheit“ (plßr)
vr|(päX,ioq oder sobna ebrietas), wird von Pseudo-Longinus (im folgenden
„Longin“) transportiert und von den Kirchenvätern bis zu den Ästhetikern des
18. Jahrhunderts rezipiert.
96 Hebräisch (Qumran): „Ruach Adonai Jachwe alai, jä’an maschäch Jachwe oti; 1’ wasser
anawim schlachäni [...].“ 0s 61, la - zit. n. Lubkoll/Wiesnet 1980: 30); Griechisch
(Septuaginta): „JtvEvpa xupiov EJt’ fp£, oü ewekev EXptoev pE EUaxyeklcaoSat itTcoxoü;
[...].“ (Lk 4, 18 - vgl. Nestle 1906: 152 b); Lateinisch (Vulgata): „Spiritus Domini super me:
propter quod unxit me, evangelizare pauperibus misit me [...]“ (ebd.); Deutsch (Luther):
„Der geist des Herrn ist bey mir / der halben er mich gesalbet hat / vnd gesand zu
uerkuendigen das Euangelion den armen [...].“ (vgl. Lubkoll/Wiesnet 1980: 30ff.)
97 Vgl. Schelling 1985 [1797; T803]: 249-294 („Über die Probleme, welche eine Philosophie
der Natur aufzulösen hat“ aus „Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das
Studium dieser Wissenschaft“). Schelling begründet in dieser „Einleitung“ die Vorstellung
einer „Ureinheit“ von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, vor allem Sein. Das Pro
blem der Drei- bzw. Vierzahl der Emanationsstufen Gottes beleuchtet Schelling dabei in
hochspekulativer Weise: Neben Gott tritt eine „Primordialwelt“, ein „Wille“ oder eine
„Kraft“, aus der das Wort Gottes die Welt erschafft. Die drei Instanzen neben Gott sind
also das Primordialprinzip einer arche („Wille“, „Kraft“), das Sinnprinzip des logos („Wort“,
„Spruch“) und die materielle Welt, der kösmos (vgl. Schmidt-Biggemann 1996). Nimmt man
das Brunnenbild des Psalms aus Hölderlins Magisterarbeit als Modell der Präexistenz, so
ergibt sich folgende Staffelung: Die arche entspricht der „Quelle“; der lögos dem „Brunnen“
und der daraus geschaffene kösmos, das Materielle, dem „Wasser“ (vgl. Spr 8, 22 und Kapitel
1.2.2).