Page 107 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Phiionische Logosspekulation                105


           Longin  bespricht  eine  ganze  Zahl  phiionischer  Schriften.  Dies  geschieht  in­
       nerhalb  einer  Diskussion  um  die  vollkommene  Natur  des  poetischen  und
       rhetorischen  Genies  (während es  bei Philo  selbst  zunächst  nur um  die  große  re­
       ligiöse Begabung geht).  Die  „moderne“  Rezeption von  Über das Erhabene  verläuft
       über Ambrosius und Augustinus (vgl. Schmidt  1993: 837f.).
           Die  Glieder  der  Rezeptionskette,  durch  die  phiionisches  Denken  auf  den
       deutschen  Idealismus  und  die  Frühromantik  gewirkt  hat,  sollen  im  folgenden
       noch einmal kurz skizziert werden. Philos Präexistenzdenken vermittelt zwischen
       alttestamentlicher Ruach und dem pneumatischen Logos bei Johannes oder Paulus
       (vgl.  Klausner  1950:  186).  Das  haben die Forschungen  Mark R.  Ogdens  über  die
       Verknüpfung von „Hölderlin,  Spinoza,  and St. John“  (1989)  gezeigt.  Ogden zeigt
       die  Abhängigkeit  des  johanneischen  Logos  von  der  jüdischen  Weisheitslehre
       (Hiob,  Psalmen,  Weisheit  Salomos).  Spinoza  kommt  für  die  Vermittlung  dieser
       Filiation  des  Geistbegriffs  eine  Schlüsselfunktion  zu  (im  folgenden  2.1).
       Berücksichtigt   man   Philo   im   hellenistischen   Umfeld   der   jüdischen
       Weisheitsliteratur,  so fällt  auch ein neues Licht  auf Hölderlins Bildgebrauch.  Die
       phiionische  Messiasspekulation  erweist  sich  als  aufschlußreich  für  die  Struktur
       von Hölderlins messianischer Mythogenese.
           Das zeigt der mythische Topos vom  „Erstgeborenen“  in der ‘Hymne an den
       Genius Griechenlands’  (2.2).  Zwar spricht Hölderlin noch rein  mythisch von der
       anfangslosen Geburt des Eros aus dem Schöpfungsdunkel;  doch die Adaption der
       phiionischen Genielehre gilt bereits seit seiner Maulbronner Zeit als gesichert  (vgl.
       Vöhler  1992/93).  Und  die  orphische  Mythenvariante  (Geburt  des  Eros  aus  dem
       „Weltenei“)  rückt  Herder  wiederum  in  die  unmittelbare  Nähe  der phiionischen
       Schöpfungslegende.  Damit  erweist  sich  bereits  in  dieser  frühen  Hymne  rein
       hypothetisch  die  Parallellisierbarkeit  zwischen  Eros  und  Logos  im  Topos  des
       „Erstgeborenen“.
           Führt  man  Hölderlins  mythisches  Dichter(selbst)bild  konsequent  auf  die
       phiionische  Genielehre  zurück,  so  etabliert  sich  ein  heteronomer  Geniebegriff
       gegen  das  klassische  Autonomiepostulat.  Diesen  Gegensatz  vertieft  ein  Text
       Herders  über  die  Genesis,  in  dem  das  gottähnliche  Schöpfertum  des  autonomen
       Künstlers mit Hölderlins heteronomen Subjektentwurf kontrastiert (2.3).


          2.  Philo, Johannes und Spinoza: Logosspekulation zwischen jüdischer Ruach und
                             frühromantischem Geistbegriff

       Das jüdische  Verständnis  der  Ruach  ist  zunächst  streng  monotheistisch.  Für  das
       rabbinische Judentum  kommt  eine  Instanz  neben  Gott  oder zwischen  Gott  und
       der Welt  nicht  in  Frage.  Das  rabbinische Verständnis von  der Geistigkeit  Gottes
       geht sogar so weit, daß Gott selbst nicht direkt mit dem Körperlich-Materiellen in
       Kontakt  gebracht  oder  gedacht  werden  darf.  Strenge Mittelbarkeit  ist  das Wesen
       Jahwes.
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