Page 108 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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              Im  hellenisierten  Judentum  kam  es  dagegen  verstärkt  zu  spekulativen  Ver­
          suchen,  die  Kluft  zwischen  jahwistischer  Absolutheit  und  der  Vielfalt  der
          Schöpfung  zu  überbrücken.  Dies  geschah  als  „Konvenienz“  und  „Kompromiß“
           (Klausner  1950:  200f.)  des  Diaspora-Judentums  gegenüber  seiner  griechischen
          Umwelt. Philo von Alexandrien unternahm  im  1. Jahrhundert  n.  Chr.  mit seiner
          Logoslehre einen solchen Ausgleich zwischen griechischem Logos und semitischer
          Ruach.  Diese  Vermittlungsanstrengung  bettete  sich  allerdings  in  eine  ältere  Tra­
          dition,  die immer wieder Anlaß bot für Streit um  die tatsächliche Einheit  Gottes
           (Elohisten vs. Jahwisten, vgl. Stemberger 1979: 216f.).
              Zeugnis  davon  gibt  die  alttestamentliche  Weisheitslehre,  die  dem

           Schöpfergott Elohim stets eine präexistente Geistinstanz vorordnet, - abstrakt ge­

           dacht  als  „Sophia“  oder  „Weisheit“;  konkret in  Gestalt  eines  platonischen
           „Demiurgen“  (Stemberger  1979:  217).  Diese  Weisheitslehre  besteht  aus  den
           jüngeren  Schriften  des  Alten  Testaments  wie  den  Büchern  Hiob,  Kohelet  oder
          Jesus Sirach, dem Psalter, den Sprichwörtern und der Weisheit Salomos.
              Dabei  ist  zu  unterscheiden  zwischen  der  hellenistischen  Weisheitslehre  der
           deuterokanonischen  Schriften,  wie  z. B.  dem  Buch  der  Weisheit  Salomos
           (entstanden  im  1.  Jahrhundert  v.  Chr.)  und  den  kanonischen  Büchern  des  Alten


                            ,
           Testaments  (Psalmen Prediger und Sprüche  Salomos aus  nachexilischer  Zeit,  also

           ca.  500-200  v.  Chr.).98  Die  Weisheit  Salomos ist  nur  in  Septuaginta  und  Vulgata
           überliefert,  nicht  jedoch  im  hebräischen  Originaltext  des  Alten  Testaments
           (deswegen nicht  kanonisch).99
               Allerdings  enthalten  auch  die  kanonischen  Weisheitsschriften  (wie  Psalter
           und  Sprichwörter)  eine  Fülle  von  Belegen  für  die  Vorstellung  einer  „Ur-Weis-
           heit“, eines „Ur-Spruches“  oder „Ur-Wortes“, die Gott präexistieren.100 Hölderlin
           hat  sich  in  seinem  Magisterspecimen  mit  dieser  Weisheitslehre  und  ihrem  Prä­



            98  Dazu zählt auch das Buch Hiob, eine von Hegels biblischen Vorlieben.
            99  Moderne, ökumenische Bibelübersetzungen fassen dieses  Schriften  unter „Die  Bücher der
               Lehrweisheit und der Psalmen“ zusammen (vgl. Einheitsübersetzung 31982: 584f.).
            100  Die  Begriffe  der  jüdischen  Religionsphilosophie  (vgl.  Klausner  1950:  181-188,  besonders
               187f.)  für  diese  präexistente  Instanz  sind  vielfältig:  neben  „Thora“,  „Sophia“,  „Logos“,
               „Wort“,  auch  metaphorische  Wendungen  wie  „Lebensquell“,  „Plan  des  Künstlers“,
               „Mittler“  oder  „Bote“.  Der  Begriff  „Parakletos“  (itapodcXrytoq = „Tröster“)  für  „Geist“,
               „Wort“ stammt aus dem Johannesevangelium.  Das Wort hatte ursprünglich eine engere ju­
               ristische  Bedeutung  im  Sinne  von  „Rechtsbeistand“.  Joseph  Klausner  verdeutscht
               „Paraklet“  als  „Mittler“  und  „Dolmetscher“  (Klausner  1950:  187).  Die  Religionswissen­
               schaft  spricht  auch  vom  „Fürsprecher“  (Bertholet  1985:  454/1),  ein  Begriff,  der  den
               personal-sprachlichen  Doppelcharakter  der  Geistvorstellung  sinnfällig  macht.  Bei  Philo
               kommt diese Doppelvorstellung vom Logos als personal-spachlicher Zwitter ebenfalls zum
               Ausdruck: die Figur der Xöyot  oneppotTiKol, der „samenstreuenden Worte“, decken einen
               Bedeutungshof ab,  der bis  zu  den  personal  gedachten  äpxaYYeXoq,  den  „Erzengeln“  und
               dem fürbittenden „Hohepriester“ reicht (Klausner  1950:  187).
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