Page 109 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Philo, Johannes und Spinoza                  107


      existenzdenken  beschäftigt,  wie  das  bereits  zitierte  Sprichwort  Salomonis
      belegt.101
          Für das spekulativ und gnostisch inspirierte Diasporajudentum bedurfte diese
      semitische  Gottesvorstellung  also  einer  Instanz,  um  zwischen  der  reinen
      Geistigkeit  Gottes  und  der uranfänglich  geistleeren  Materie  zu vermitteln.  Philo
      von  Alexandrien  schreibt  dem  Logos  diese  Brückenfunktion  zu.  Aus  seinem
      griechischen Sprach- und Bildungskontext reichert er die jüdische Vorstellung der
      Ruach  mit  Elementen  des  Logosdenkens von  Heraklit  bis  Plato  an.102  Dennoch
      bleibt  sein  Logos  originär  semitisch.  Der  phiionische  Logos,  übersetzt  als
       „Spruch“  oder  „Wort“,  der  im  Anfang  und  vor  allem  war,  verkörpert  die  be­
       nötigte geistig-materielle Doppelstruktur:
          ,Und Gott sprach: es werde und es ward.“ Dieser .Spruch“  also ist eine in der Gottheit
          enthaltene  schöpferische Kraft,  durch welche die  Gottheit wirkt.  Als Rede  und  Laut
          ist der Spruch nicht etwas wirklich Materielles;  aber er ist auch nicht etwas rein Gei­
          stiges.  Er ist eine Brücke und ein Übergang von der absolut geistigen Gottheit zu der
          geistig-körperlichen Welt. Der .Spruch“  bildet und erschafft ohne wirkliche materielle
          Mittel, da er ja, wie gesagt, nur Rede und Laut ist; also vermittelt er auch im Hinblick
          auf die Schöpfung zwischen Gottheit und Welt.  (Klausner  1950:  187)
       Für  diesen  spirituell-physischen  Aggregatzustand  des  Logos  als  Ferment  des
       Schöpferischen  ergaben  sich  in  der  Folgezeit  verschiedene  Ableitungen:  auf  den
       zwischen Geist und Körperwelt changierenden  Charakter dieser Denkfigur heben
       „Spruch“  und  „Schechina“  („Glorie“,  „Einwohnung“)  in  Talmud  und  Midrasch
       ab. Der Kabbalist Salomon Ibn Gebirol faßt die Zwischeninstanz in das Naturbild
       vom „Lebensquell“;103 psychologisierend ist dagegen sein Bild vom ursprünglichen
       „Willen“.  Die  gnostische Metaphorik  des  „Adam  Kadmon“  signalisiert  wiederum
       eine   Zurücknahme   des   Körperlichen   und   Anthropomorphen:   der
       „staubgeborene“  erste  Adam  {ädamah = Staub,  Erde)  wird  erlöst  vom

       „lichtgeborenen“  zweiten Adam  Kadmon  (kddmos=hell,  glänzend).  „Adam
       Kadmon“  drückt  also  die  menschliche  Doppelbestimmung  zwischen  Lehm  der


        101  Die Weisheit sagt von sich: „Der HErr hat mich gehabt im Anfang seiner Wege; ehe er was
           machte, war ich da. /  Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang vor der Erde. /  Da die
           Tiefen noch nicht waren, da war ich schon bereitet; da die Brunnen noch nicht mit Wasser
           quollen.“ (Spr 8, 22-24 zit. n. Luther 1818 - vgl. FHA  17: 67)
        102  „In der Tat  gelangten  zwei  der bedeutendsten  Gräzisten [E.  Schwartz  und A.  Bonhöffer,
           R. C. ] zu dem Schluß, daß der Logos Philos und das .Wort“ des Evangeliums Johannis, der
           von Philo abhängig ist, mit dem .Logos“ Heraklits, der Stoa und Epiktets nur den Namen
           gemeinsam haben; der phiionische .Logos' sei eine fast vollständig originale Schöpfung, die
           reife  Frucht  der  jüdischen  Exegese.“  (Klausner  1950:  186).  Zur  Unterscheidung  der  ver­
           schiedenen Logosbegriffe vgl. ebd.  186f.).
        103  Das  entsprechende Werk  von  Salomon Ibn  Gebirol  (1021  bis  um  1050/70;  bei  Klausner
           auch  Gdbirol) trägt den Titel Der Lehensquell (Mekor Chajjim, Fons vitae). Es  handelt  sich
           um eine Schrift der jüdischen Kabbala mit einem Original in arabisch!
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