Page 110 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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108                 II.  Kapitel: Ruach, L ogos,  G eist


           Schöpfung  und Licht der Erlösung  in gedrängter Form aus. Diese Vergeistigung und
           Verflüchtigung  ins  Körperlose  setzt  sich  im  christlichen  Messiasverständnis  fort,
           wenn  Paulus  den  „Menschensohn“  Daniels  oder  Hesekiels  vollends  zum
           „himmlischen Menschen“104 umdeutet (Klausner  1950:  188).
               Die  anfänglich  stumm  über  Finsternis  und  Wassern  schwebende  Ruach
           artikuliert sich im schöpferischen Logos.  Philo  sieht  in  diesem  „Wort“  die Wiege

           des jüdischen  Messias.  Sein Logos  ist  der Spruch des allschöpferischen  „Es werde“
           und  der  präexistente  Name  des  Messias  zugleich.  Diese  Vorstellung  vom
           präexistenten Namen des Messias geht allerdings auf eine ältere jüdische Tradition
           zurück (vgl. Klausner 1950: 444, Anmerkung Nr.  54). In Johannesevangelium und
           paulinischer  Christologie  aber  schwelt  noch  die  Messianität  des  phiionischen
           Logos.
               Die  Faszination,  die  die  jüdische  Weisheitslehre,  vermittelt  über  eine  Kon­
           junktur des Johannesevangeliums,  auf das  18.  Jahrhundert  ausübte,  hat  Mark  R.
           Ogden untersucht. Er hat brillant gezeigt, wie Schlegel, Hölderlin und Novalis im
           Johanneischen Geistbegriff das Modell ihrer Synthesespekulationen fanden.
               Der  amor  dei  intellectualis  Spinozas  genügte  ihnen  nicht,  denn  er  ist  rein
           „intellektuell“  gedacht,  ein  synthetischer  „Eros“  geht  ihm  ebenso  ab  wie  der
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           Grundzug einer  „Eschatologie“.105 1Amor dei intellectualis heißt:  immanentes Ver­
           einigungsstreben  mit  dem  Göttlichen,  in  Ogdens Worten:  ein  „nature  mysticism
           which  renounces  faith  in  human  history.“  (Ogden  1989:  453)  Ganz  anders  da­
           gegen die  Geist- und Liebestheologie des Johannesevangeliums,  die beides besitzt,

           eros und  agape.'06 Die Johanneisch-Paulinische  Logoslehre  verspricht:  Christsein

           heißt  christusgleich  werden  im  Prozeß  einer  „mutual  glorification  or  trans­
           figuration“ zwischen Mensch und Gott.  (Ogden 1989: 436) Diese Liebe ist erotisch,
           also sinnlich-immanent und zugleich eschatologisch, d. h.  geistig-transzendent:  „[...]

           all  believers  will  be  one  with  Christ  and  the  Father  -  this  is  the  eschatological
           fulfilment characteristically envisaged in John’s Gospel.“  (Ogden  1989: 455)

            104  Paulus, der mit Apollos, einem Zeitgenossen Philos, Kontakt hatte, knüpft in unmittelba­
               rer Nähe zu Philo und zur jüdischen Weisheitslehre an diese Gedanken an. Paulus erhebt
               den Maschiach (Christos) Iesus zum „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“  (Kol 1, 15) und zum
               „himmlischen Menschen“  (1 Kor 15, 49). Die Analogien und Parallelen von drei  religions­
               geschichtlichen  Strängen  lassen  sich  also  feststellen,  und  zwar  von  1. jüdischer
               Weisheitslehre  (z. B.  Buch  Daniel);  2. phiionischer  Logosspekulation  und  3. Paulinischer
               Christologie (Zwei-Leiber-Lehre - vgl.  1 Kor 15, 44; Kol  1, 15-18).
            105  Spinoza  definiert  den  amor dei  intellecutalis wie  folgt:  „Amor  est  Laetitia,  concomitante

               idea  causae  externae.“  -  Und:  „Amorem  esse  voluntatem  amantis  se  jungendi  rei  amate
               [...].“  (Ubs.:  „Liebe  ist Lust,  verbunden  mit  der Idee  einer  äußeren  Ursache.“ - „Liebe  ist
               der Wille des Liebenden,  sich mit dem geliebten Gegenstand zu verbinden [...].“ Ethik III,
               „De Affectibus“, Definition 6 und Erläuterung, Spinoza 1990: 400f.)
            106  Belegstellen für die Einheit der Gläubigen mit dem Vater in Jesus: Jh  1,  12f.; 12, 36; 15,  16;
               16, 23-27 (vgl. Ogden 1989: 455).
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