Page 111 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Philo, Johannes und Spinoza                  109


          Hier  liegt  der  Angelpunkt,  um  den  die  Spekulationen  von  Idealisten  und
      Frühromantikern  kreisten:  Verschmelzung  und  Allversöhnung,  die  im
      Johanneischen  Geiste  denkbar  und  fühlbar  wurden,  transzendierten  die  bloß
      innerweltliche  Gottheit  Spinozas  und  bildeten  eine  Denkfigur  von  Geist  und
      Liebe,  die Immanenz und Transzendenz in  idealer Schwebe hielt. Die  Quelle  des
      frühromantischen Synthesedenkens war damit  aufgetan;  aus ihr  konnten sich die
      idealistischen Utopien im Geiste von Hierarchie- und Herrschaftslosigkeit speisen.
      Schlegels Begriffe wie „Geselligkeit“,  „Poesie“ und „Gespräch“, aber auch Novalis’
      „goldenes  Zeitalter“,  Hölderlins  „Gemeingeist“,  „Frieden“,  „Herrlichkeit“  und
      „Liebe“  im  Zeichen des „Hen  kai pan“  konnten  erst auf diesem  Grund  ihre volle
      Kraft entfalten.
          Die staatstheoretischen Debatten im Hyperion um den „Garten“  (KHA II: 40,
      Z. 8), als der ein  „Freistaat“  (ebd. Z.  26)  seine Bürger organisch umfangen soll, die
      Asthetisierung des  Politischen  in  Staatsentwürfen  wie  Hyperions  „heiliger  Theo­
      kratie  des  Schönen“  (ebd.  ZZ. 26f.)  wurzeln  ebenfalls  im  Geistbegriff  des
      Johannesevangeliums.  Hyperions  Liebe  zu  Diotima  ist  in  diesem  Sinne  eschato-
      logisch  aufgeladen,  was sich in  der pneumatisch-erotischen Doppelsemantik eines
      Begriffes  wie  „Herrlichkeit“  offenbart:  „herrlich“  ist  die  Geliebte,  „herrlich“  ist
      das Göttliche,  das Kommende,  die messianische Liebesordnung. P. H.  Gaskill hat
      diese Eschatologisierung des Erotischen oder umgekehrt:  die „Erotisierung“ des fata­

      listischen  Geschichtsverständnisses  von  Spinoza  oder  Heraklit  am  Begriffspaar
      von  „Nähe“  und  „Ferne“  nachgewiesen.  Die  erotisch  Geliebte  („das  himmlische
      Geschöpf[e]“, KHA II:  188,  Z.  6)  und das messianisch Ersehnte entziehen sich  im
      Moment  höchster  Annäherung  -  das  ist  der  Grundgedanke  dieser  Dialektik.
      Gaskill  stellt  dem  eschatologischen  Anfangsvers  von  ‘Patmos’  die  erotische
      Begeisterung Hyperions aus einer Vorstufe des Romans gegenüber:
       ‘Patmos’                          Hyperions Jugend (1795)

       Nah  ist                          „Was  so fern  ihr [i,  e.  „der  Liebe“]  war,  ist

       Und schwer zu fassen [=   „fern“, R. C.] der   nahe nun  und  ihresgleichen,  und  die  Voll­
       Gott. (VV.  lf.)                  endung,  die  sie  an  der  Zeiten  Ende  nur
                                         dunkel  ahndete,  ist  da.  Ihr  ganzes  Wesen
                                         trachtet,  das  Göttliche, das  ihr  so  nah ist,


                                         sich  nun  recht  innig  zu  vergegenwärtigen,
                                         und  seiner,  als  ihres  Eigentums,  bewußt  zu
                                         werden.  Sie  ahndet  nicht,  daß  es  ver­
                                         schwinden  wird  im  Augenblicke,  da  sie  es
                                         umfaßt,  daß  der  unendliche  Reichtum  zu
                                         nichts  wird,  wo  sie  ihn  sich  zu  eigen
                                         machen will.“  (KHA II: 221, ZZ. 27-34; vgl.
                                         Gaskill  1978: 41)

       Wie  Gaskill  hier  Hyperions  „Liebeseschatologie“  und  den  apokalyptischen  En­
       thusiasmus des lyrischen  Ich  in ‘Patmos’  gleichsetzt,  ohne zu  bedenken,  daß  sich
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