Page 112 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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110                  II.  K apitel:  Ruach,  Logos,  G eist


           Hölderlins  messianisches  Denken  allmählich  vom  Pneumatischen  zum  Apo­
           kalyptischen  verschiebt,  schmälert  seine  Schlußfolgerung  nicht:  die  plausible
           Ableitung von Eros und  Eschaton  aus  einer Dialektik  von  Nähe  und Ferne,  Er­
           scheinen und Verschwinden  im  Zeichen des  johanneischen  Geistes.  Angereichert
           vom  Liebes-  und  Vereinigungsenthusiasmus  bei  Johannes,  erhält  der  nüchterne
           Liebesbegriff  Spinozas  gleichsam  die  kritische  Masse,  um  im  frühromantischen
           Geistverständnis  seine  ästhetischen,  politischen  und  utopischen  Energien  frei­
           zusetzen.
               Die  Rezeption  des  Johannesevangeliums  und  das  eigenwillige  Spinozabild
           von Hölderlin und den deutschen Frühromantikern sind weitgehend erschlossen,
           wie  die  Forschungen  von  Ogden  und  Gaskill  gezeigt  haben  (vgl.  Hölderlins
           Aufsatz „Zu Jakobis Briefen  über die Lehre des Spinoza“,  1790/91,  KHA II: 492-
           495  und  Wegenast  1990).  Umso  lohnender  erscheint  es,  die  Spekulation  Philos
           und  der  jüdischen  Weisheitslehre  innerhalb  der  johanneisch-paulinischen
           Überlieferung  zu  isolieren,  um  den  Einfluß  Philos  und  der  Weisheitslehre  auf
           Hölderlin separat zu betrachten. Das soll anhand der phiionischen Vorstellung des
           Messias  als  „Erstgeborenem“  Gottes geschehen  (Klausner  1950:  187).  Es wird sich
           zeigen,  daß  dieser  Topos  des  Präexistenzdenkens  für  Hölderlin  eine  große  Rolle
           spielt.


                   2. Der Topos vom „Erstgeborenen“: Erosmythe und Logosmessias

           Die Übereinstimmung  zwischen  Gedanken  Philos  und  Hölderlins  sei  am  Motiv
           des  „Erstgeborenen  /  Der  hohen Natur“  nachvollzogen,  wie  ihn das lyrische Ich
           der ‘Hymne an den  Genius Griecnenlands’ von  1790 beschwört.  Diese frühe An­
           wendung   phiionischer   Denkfiguren   erscheint   durch   die   jüngste
           Rezeptionsforschung  gesichert:  Martin  Vöhler  hat  in  seiner  Untersuchung  von
           Hölderlins  Longin-Rezeption  noch  einmal  darauf  hingewiesen  (vgl.  Vöhler
           1992/93:  152),  daß  Hölderlin  die  Schrift  „Über  das  Erhabene“  schon  1788  wäh­
           rend seiner Klosterschulzeit  in  Maulbronn  gelesen  hat.  Rudolf Magenau  schreibt
           Hölderlin  in  einem  Brief vom  10. Juli  1788:  „Behalten  Sie  den  Longin  noch  mei­
           netwegen ein 4tel Ja[h]r.  Es freut mich recht, daß er ihnen  gefällt.“  (StA VII/1:  6,
           ZZ. 56ff.).  Es  besteht  kein  Zweifel,  daß  Longin  die  Rezeptionsbrücke  für
           phiionische  Gedanken  in  der  Geniedebatte  des  18.  Jahrhunderts  darstellt  (vgl.
           Schmidt  1982/83:  185, Anmerkung Nr.  5; Lewy 1929: 49, Anmerkung Nr.  1).
               Neben  den  phiionischen  Elementen  in  der  Inspirationstheorie  Longins
           kommt  aber auch  die biblische  (und apokryphe)  Weisheitsliteratur selbst als Ein­
           flußquelle  für  Hölderlin  in  Frage.  Der  zitierte  Spruch  Salomos  aus  Hölderlins
           Magisterarbeit hat dies schon gezeigt. Eine eigene Psalmenvorlesung aus dem Win­
           tersemester 1783/84 wiederholte der Stiftsephorus Schnurrer, wie schon erwähnt,
           zum  Wintersemester  1788/89,  als  Hölderlin  sein  Studium  in  Tübingen  begann
           (Jacobs  1989:  104f.;  vgl.  Kapitel  1.1.2).  Die  Stiftler  gingen  den  Psalter  bei
           Schnurrer  chronologisch  durch  (vgl.  Schelling-Nachlaß  Nr.  17:  Iff.).  Auch  eine
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