Page 113 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Der Topos vom „Erstgeborenen 111
ausgiebige Exegese des Buches Hiob ist durch eine Vorlesungsnachschrift
Schellings belegt (vgl. Schelling-Nachlaß Nr. 18, 19 und 20). Bis in die Thematik
der Magisterspecimina und Dissertationen von 1785 bis 1795 (vgl. Jacobs 1989:
255-293) und der Inauguralthesen (vgl. Nicolin 1969/70: 244ff.) wirkte die Lektüre
und Exegese der Sprüche und Psalmen nach. Aber nun zum Text. Die ‘Hymne’
beginnt:
Jubel! Jubel!
Dir auf der Wolke!
Erstgeborner
Der hohen Natur\
Aus Kronos Halle 5
Schwebst du herab,
Zu neuen, geheiligten Schöpfungen
Hold und majestätisch herab.
Meine Ausführungen gliedern sich in zwei Schritte: Zuerst folgt meine Interpre
tation der synkretistischen Ineinssetzung von „Eros und Logos“ . Dann folge ich
der Filiation „vom Logosmessias zum Ruachmessias“, eine Ableitung, die einen
sehr weiten Bedeutungshof der Vorstellung vom „Erstgeborenen“ ausschreitet.
Zuletzt möchte ich zeigen, wie Orpheus und Homer den griechischen Geist
mythisch und historisch personifizieren („Mythisierung und Historisierung des
griechischen Genius“).
Eros und Logos. Mit dem „Erstgeborenen“ ist zunächst der „Genius Grie
chenlands“ gemeint, der als Inbegriff klassizistischer Kreativität für das
Schöpferische und Künstlerische steht. Die mythische Folie dafür ist die Erst
geburt des Eros, die Hesiod überliefert (vgl. Theogonie, VV. 120ff.). Elternlos wird
Eros dabei Gaia, der Mutter Natur, und Tartaros, der Unterwelt, zur Seite ge
stellt. Orphische Quellen dagegen überliefern die „Erstgeburt“ des Eros aus einem
Weltenei, das aus der Vermählung der Nyx (Nacht) mit Erebos (die Finsternis der
Unterwelt) hervorgeht (vgl. Pauly/Wissowa 1979: II, 361). Zunächst scheint sich
Hölderlin auch eng an die rein mythische Kontur des „erotischen“ Genius der
Griechen zu halten. Das signalisieren zumindest die hymnischen Attribute
Amors, so die „Beflügelung“ in der feierlichen „Schwebe“ (VV. 6; 24; 37), das
„goldgelockte“ Haar (V. 21; vgl. Pauly/Wissowa 1979: II, 362) und die Mut
terschaft der „hohen Natur“ (nämlich Gaias, die Hölderlin in etwas freier Weise
als „unsterbliche“ Mutter substituiert, vgl. VV. 4 und 9). Wenn Hölderlin in der
5. Strophe den Erlösungszustand reiner Positivität hymnisch feiert und mit der
Erosgestalt verknüpft, dann durchschimmern auch deutlich messianische Ideen
das mythische Bild: