Page 114 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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                         Im Angesichte der Götter
                         Beschloß dein Mund
                         Auf Liebe  dein Reich  zu gründen.        30
                         Da staunten die Himmlischen alle.
                         Zu brüderlicher Umarmung,
                         Neigte sein königlich Haupt
                         Der Donnerer zu dir.
                         Du gründest auf Liebe  dein Reich.        35

           Die  Aufhebung  positiver  Schranken  und  Erstarrungen,  die  Begründung  eines
           „Reiches  der  Liebe“,  darin  „heilige  Freiheit“  (V.  18)  und  glühende  „Freude“
           (V.  18)  dominieren,  ist  mit  dem  griechischen  Eros  nicht  mehr  zu  erklären.
           Vielmehr schillert hier in der Erosmythe auch eine eschatologische Figur, etwa im
           Sinne  einer  Christusparaphrase  des  besungenen  Genius.  Dafür  sprechen  neben
           dem  Begriff  des  „Reichs“  die  „brüderliche“  Allumarmung  von  Menschen  und
           Göttern  (VV. 32ff.).  Auch  der  „Donnerer“  Zeus  oszilliert  in  den  Versen  28-35
           merkwürdig  zwischen  dem  Charakter  eines  „Gottvaters“  bzw.  „Göttervaters“
           (vgl.  dazu  Lachmann  1966:  99-105).  Ganz  im  Sinne  einer  „Erotisierung“  des
           Eschatologischen,  die  im  letzten  Kapitel  als  Synthese  aus  spinozistischem  Geist­
           und johanneischem  Logosbegriff  erarbeitet  wurde,  verhält  es  sich  mit  dem  my-
           thomessianischen  Programm  der  Hymne.  Dies  allerdings  in  umgekehrter
           Richtung:  Hölderlin  „eschatologisiert“  den  griechischen  Eros  mit  christlich-
           messianischen  Anklängen.  Das  stützt  auch  der  zentrale  Topos  von  der
           „Erstgeburt“.  Denn  auch  Christus  wird  im  Neuen  Testament  immer  wieder  als
           der  „Erstling von  Schöpfung und Erlösung“  bezeichnet  (vgl.  Kol  1,  15-18;  Hebr
           1, 6 bzw.  Offb  1,  5;  1  Kor  15, 20).  Hiermit  berührt  Hölderlins Feier des Eros die
           Fundamente  der christlichen  Messiasvorstellung und  zehrt  -  durch  die  Ruachab-
           hängigkeit des Logos - von der phiionischen Messiasspekulation.
               Hiermit könnte die mythomessianische Deutung der ‘Hymne an den Genius
           Griechenlands’  getrost  enden,  denn  eine  begriffliche  und  topische  „Berührung“
           bedeutet noch keine  „Fortführung“  im  Sinne einer direkten Rezeption. Dennoch
           möchte ich  anhand des Gedichts  nicht nur den  griechischen Eros mit dem christ­
           lichen Logos parallelisieren, sondern auch die jüdische Kontur des „Ruachmessias“
           nachzeichnen.  Wieder  wird  Hölderlin  dabei  hypothetisch  neben  seiner  synkre-
           tistischen  Absicht  (Verschmelzung  von  Eros  und  Logos)  auch  ein  filiatorisches
           Bewußtsein  unterstellt  (Logos  als  Abkömmling des Ruach).  Zugegeben:  Dies  ge­
           schieht   auf   spekulativem    Niveau.   Die   folgende   theologieschichtliche
           Versuchsanordnung  soll  die  Schlußfolgerungen  daher  lediglich  experimentell  er­
           gänzen, die ich bis zu diesem Punkt gezogen habe.
               Zunächst  möchte  ich  an  der  Vorstellung  von  Christus  als  dem
           „Erstgeborenen“  oder  „Erstling“  von  Schöpfung  und  Erlösung  im  Neuen  Testa­
           ment  anknüpfen  und  die  Tradition  des  Messias  aus  dem  Alten  Testament
           ergänzen  (vgl.  2  Sam  7,  12-14;  1  Chr  17;  Ps  2,  7;  ).  Faßt  man  den  Topos  vom
           „Erstgeborenen“  so  weit,  daß  sogar  die  alttestamentliche  Färbung  des
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