Page 119 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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D er Topos vom „Erstgeborenen “ 117
sierung des griechischen Genius durch Orpheus und seine Historisierung durch
Homer.
Die Mythisierung des Genius. Betrachtet sei zunächst die Mythisierung des grie
chischen Genius in der Orpheusfigur:
D u kommst und Orpheus Liebe
Schwebet empor zum Auge der Welt
Und Orpheus Liebe
Wallet nieder zum Acheron. (VV. 36-39)113
Für Hölderlin ist Orpheus in seiner „Geschichte der schönen Künste unter den
Griechen“ (ebenfalls 1790 entstanden) die ideale Synthese von Tat- und
Geistprinzip.114 Der mythische Sänger erweist sich als „Dichterheld“ par
excellence:
Die Griechen vergötterten ihren Orpheus wie ihren Herkules. Sie malten die gewal
tigen Würkungen seiner Leier aus, wie die Taten ihrer Heroen. Orpheus war auch,
wie Ossian, Barde und Held. Er nahm an den Abenteuern seiner Zeitgenossen, Jasons,
Castors und Pollux, Peleus und Herkules, selbst Teil: so besang er den Argonauten
zug. (KHA II: 474, Z. 29-34)
Als „Erstgeborener / Der hohen Natur“ (VV. 3f.) erweist sich der „orphische“
Messias (oder messianische Logos) in der Hymne an den Genius Griechenlands’
als poetisierter Abkömmling des phiionischen „Erstgeborenen der Gottheit“
(Klausner 1930: 264f.; 1950: 187f.). „Barde“ und „Held“ spiegeln wie von ferne die
Facetten des Herosmessias bei Philo, der dem Messias „Heiligkeit“, „Stärke“ und
„Gerechtigkeit“ zusprach, also geistige und tätige Tugenden (vgl. die letzte An
merkung). Hölderlin säkularisiert zudem „Gott“/„Gottheit“ durch „Natur“; eine
Analogisierung, die sich wiederum, wie gezeigt, mit den frühromantischen Sub
stitutionen deckt („Grund“, „Seyn“, „Natur“). Zudem verbindet die harmonische
Entgegensetzung von nordischer und orientalischer Dichterfigur (Ossian versus
Orpheus) Kulturtopographie zu einer mythomessianischen Einheit.
113 Vgl. Mieth 1990, der hier VV. 36 und 38 jeweils Orpheus' liest.
114 In seinem Aufsatz erwähnt Hölderlin den „kriegerischen Tyrtäus“ aus Sparta
(KHA II: 478, Z. 28). Tyrtäus ist ein weiteres Vorbild für den „heldischen Dichter“. Mit
seinen Kampfliedern führte der „hinkende Poet“ aus Athen (ebd. Z. 31) die
„Lacedämonier“ (= Spartaner) gegen die Feinde zum Sieg (im 2. Krieg gegen die Messenier
Ende des siebten Jahrhunderts v. Chr. - vgl. Bothe 1996: 123f.). Tyrtäus und Orpheus ver
einen jeweils in sich, was die vielen ikarisch-herakleischen Paare Hölderlins als
Entgegensetzung verkörpern. Das Motiv des Versehrten, physisch kranken und „leidenden“
Helden variiert Hölderlin außer mit Chiron und Tyrtäus auch mit Philoktet in ‘Wenn
aber die Himmlischen...’ (siehe Kapitel IV. 2). Zu der Heldengruppe mit körperlichen
Gebrechen gesellen sich in einem weiteren Sinne die „rasenden“ Heroen wie Aias, Herakles
und Dionysos, die mental zerüttet sind, zumindest zeitweise.