Page 120 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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118 II. Kapitel: P.uach, Logos, G eist
Die Historisierung des Genius. Auch die Historisierung, die Hölderlin für den
„Genius Griechenlands“ wählt, kann mit Philos Logosbegriff erklärt werden.
Dabei steht jedoch nicht Philos „Herosmessias“, sondern seine „psychologische“
Vorstellung vom religiösen Genie im Vordergrund. Wenn Hölderlin Griechen
land mit der Anrede an Orpheus mythisch besingt, so feiert er in der Homergestalt
den großen Ahnherren der Dichtkunst, und zwar als historisches Pendant zum my
thischen Sänger. Homer ist dabei insoweit im phiionischen Sinne charakterisiert,
als er „trunken“ erscheint (vgl. V. 42f.) Der „trunkene Mäonide“ Homer beseelt
durch seinen dichterischen „Zauberstab“ (V. 40) „die Riesengeister, die Helden der
Erde“ (V. 46), also die vielen Helden und Götter in seinen Epen. „Trunken“ ist
Homer für Hölderlin, weil er sich in seiner Verskunst von der
Leidenschaftlichkeit der „südlichen Menschen“ (KHA III: 466, Z. 27) leiten läßt,
die Hölderlin später in seinem 1. Brief an Böhlendorff als „Feuer vom Himmel“
(KHA III: 460, Z. 3) bezeichnen wird.
„Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus [...] (Ilias I, 1; Voss 1951
[1793]: 3), beginnt Homer seinen großen Gesang über die gewaltige, die
gewalttätige Leidenschaft, den Wahnsinn und das „Feuer“ eines großen Helden.
Ausgerechnet Homer schreibt Hölderlin aber im gleichen Atemzug die große
Fähigkeit zu, die „abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich“
erbeutet zu haben (KHA III: 460, ZZ. 14f.). In der komplementären
Rezeptionstheorie der Böhlendorff-Briefe meint Hölderlin damit, daß die
Griechen nur wirkliche Meister im Bereich derjenigen künstlerischen Affekte
werden können, die ihrem Wesen fremd seien (nämlich „Nüchternheit“ und
„Klarheit der Darstellung“, KHA III: 460, ZZ. lf.). Umgekehrt könnten die
Abendländer die Griechen allein in „schöner Leidenschaft“ (ebd. Z. 4) und in der
Beherrschung des „Feuers vom Himmel“ (ebd. Z. 3) übertreffen, weil das feurige
Temperament ihnen als kühlen Nordländern nicht angeboren sei und sie es erst
lernen müßten. Dieser Rückbezug von Hölderlins späterer Komplementär-
Ästhetik auf die frühe Hymne an den griechischen Genius ist aufschlußreich, weil
er einmal mehr zeigt, wie unmittelbar die verschiedenen gedanklichen und
ästhetischen Stränge in Hölderlins Lyrik einander durchwirken.
In der Geniushymne entsteht also ein paradoxer Entwurf des antiken Genies
und griechischen „Genius“: Der „trunkene Mäonide“ ist zugleich der einzige Mei
ster „jener homerischen Geistesgegenwart und Darstellungsgabe“ (ebd. ZZ. 5f.),
die der Junonischen Nüchternheit“ Ausdruck verleiht. Der vollkommene Dichter
ist trunken und nüchtern zugleich. Das führt unmittelbar in die Psychologie des
religiösen Genies bei Philo und sein berühmtes Oxymoron, die „nüchterne Trun
kenheit“ (Deopificio mundi, 23/71; Cohn 21962:1, 51).
Folgt man der gräzisierenden Terminologie Philos, dann zerfällt der Logos
als übergreifende Kategorie in zwei korrespondierende Kräfte: das theomorphe
(oder amorphe) pneüma als Ausströmung oder Vernunft Gottes (spiritus) und den
anthropomorphen noüs , der den Verstandes- und Erkenntnisapparat des
Menschen (intellectus) einschließt. Kommt es nun zur Vermittlung zwischen Gott