Page 118 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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116 II. K apitel: Ruach, L ogos, G eist
Diese politische Kontur ermöglichte der mythischen Phantasie des 18. Jahr
hunderts die heroische und mythische Aufladung der Messiasgestalt bei Philo und
in der jüdischen Weisheitslehre. Der jüdische Ruachmessias Philos bot der utopi
schen Sehnsucht und der griechischen Bilderwelt Hölderlins eine ideale Folie für
die poetische Figur des Herosmessias. Man könnte auch sagen: Hölderlins Vor
stellung vom Genius messianisiert den klassischen Heldenbegriff; umgekehrt
heroisiert und mythisiert er den phiionischen Messias, der aus dem
„erstgeborenen“ Ruach-Logos entspringt. Allerdings gibt es bei Hölderlin keinen
direkten Beweis für eine Rezeption des phiionischen Messias. Allein die Gedanken
aus der Genielehre Philos verdankt Hölderlin eindeutig seiner Longinlektüre (vgl.
‘Eine Reflexion’).
Der „Ruachmessias“ verkörpert in diesem Sinne „Kraft und Geist“ (Hyperion,
KHA II: 120, Z. 26), und zwar nicht in einem pneumatischen Sinne wie bei
Paulus, sondern als Dialektik von Körperlichkeit und Geistigkeit, Kampfkraft
und Kontemplation. Der Messias aus der präexistenten Ruach vereint die Ab
straktion des Logos mit der Konkretion des Heros. Der „Geist der Liebe“ (Eros,
Christus) ist diesem messianischen Gesamtentwurf ebenso eigen wie die „Kraft“
der Tat (Heros, Orpheus).
Hölderlin vereint im „Genius Griechenlands“ damit nicht nur die kosmische
(„Erstgeburt“, V. 3) und messianische Gestalt des Logos („Auf Liebe dein Reich zu
gründen“, V. 30). Die „Schwebe“ (V. 37) des griechischen Genius und sein
„Wallen“. Die Nähe zu Sonne (V. 37), Himmel und „Wolke“ (V. 2) verraten
neben seiner geistigen Beschaffenheit (als Pneuma) auch seine sprachliche Gestalt
(als Wort oder Spruch). Das zeigen Metaphern wie „dein Mund“ (V. 29) und „Du
schwingest den Zauberstab“ (des Rhapsoden, V. 40).
Die Analogien zwischen Hölderlins Geniusbegriff und der Messias
spekulation um Ruach, Logos und Geist sind frappierend. Und dies umso mehr,
betrachtet man die Historisierung und Mythisierung des Genius: Hölderlin feiert
den „Mäoniden“ Homer (VV. 42ff.) als historisch höchste Verkörperung grie
chischen Geistes; mythisches Pendant ist ihm der Sänger „Orpheus“ (VV. 36-39).
Auch diese beiden Gestalten durchwirkt der Geist der messianischen Ruach- und
Logosspekulation. Während „Orpheus Liebe“ (V. 60) das messianisch-erlösende
Potential des griechischen Genius in sich trägt, verdichtet sich in Homer das Ideal
griechischer Poesie und Kunst (im „Gesang“, V. 61). Phiionisch (oder
„orientalisch“) ist an der Orpheusfigur die heroisch-körperliche Kontur, das po
litische Vermögen des Dichtermessias. In der Homerfigur dagegen weist die
prophetische Disposition des religiösen Genies phiionische Wesenszüge auf. Zwei
Aspekte der ‘Hymne’ möchte ich des weiteren „phiionisch“ deuten: die Mythi-
praemiis et poenis §§ 95-97, zit. n. Klausner 1950: 196) Der phiionische Messias besitzt ein
Doppelwesen aus Geistesmacht und Tatkraft, das sich in der Begriffstriade „Heiligkeit,
Stärke und Gerechtigkeit“ (oEpv6xr|ta Kal SeivÖTTita Kal eÜEpyeaiav) manifestiert (ebd.).