Page 123 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Herders Ablehnung des phiionischen Logos 121
(Cohn 21962: I, 29f., Anmerkung Nr. 2). Andererseits signalisieren die vielen
pantheistischen Untertöne wiederum eine Affinität zur Schöpfungstheorie ohne
Mittlerinstanz: zum aristotelischen a nihilo nihil fit Spinozas. Auch Hölderlin
partizipiert an beiden Vorstellungen: in seiner Jugendzeit eher am spinozistischen
a nihilo nihil fit-, mit seinem prophetischen Dichterbild schließlich an der
platonischen creatio ex nihilo. Dieser Spannung zwischen den beiden traditionellen
Interpretationen der antiken und biblischen Weltschöpfungslehre werde ich im
nächsten Kapitel nachgehen.
Herders zitierte Feier des Schöpfungsaugenblicks führt in letzter Konsequenz
zur autonomen Genieästhetik; denn das Gottesbild Herders ist, trotz aller Be
schränkungen des gläubigen Theologen, Signatur seines Künstler- und
Genieverständnisses. Deutlich wird in der zitierten Passage das künstlergleiche,
kraftgenialische Gebaren des souveränen Gottes, der die Welt monolithisch setzt
und ganz und gar aus sich selbst heraus schöpft.
Die zitierte Passage aus Herders Text „Uber die ersten Urkunden des
Menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen“, entstand vor 1776. Hölderlin
kann sie nicht gekannt haben, denn der Text ist erst 1980 entdeckt und
anschließend aus dem handschriftlichen Nachlaß ediert worden (vgl. Kommentar
in Herder 1993: 1323f.). Dennoch ist er zitiert, weil hier der gedankliche Gehalt
der späteren Schrift Alteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774-76) verdichtet
und zusammengefaßt erscheint. Diese Schrift wiederum war sicherlich über
Schnurrers Unterricht am Stift bekannt, zumal sie sogar früher erschienen ist als
die Schriften Herders, deren Kenntnis die Forschung für Hölderlins
Magisterspecimen nachgewiesen hat (Briefe, das Studium der Theologie betreffend.
Erster Theil. Zweyte verbesserte Auflage. Weimar 1785; Vom Geist der Ebräischen
Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des
menschlichen Geistes. Erster Theil [2. Aufl.] Leipzig 1787 ).116
Debatten, wie z. B. die über den Ursprung der Sprache, waren Schnurrer
geläufig. So hat er die Kenntnis der Schriften von Herder, Michaelis und Hamann
über ihre je eigene Sprachursprungstheorie in seinen Unterricht einfließen lassen
(vgl. Jacobs 1991: 39). In diesen Diskurs gehören auch Herders Schriften Alteste
Urkunde des Menschengeschlechts und Vom Geist der Ebräischen Poesie. Hölderlins
(ältere) Kommilitonen am Stift, Ludwig Neuffer und Rudolf Magenau, haben im
Sommer 1787 bei Schnurrer eine Vorlesung über die hebräische Poesie gehört, in
der sie die Schrift De sacra poesia Hebraeorum von Robert Lowth (1710-1787)
behandelten (vgl. Jacobs 1991: 35; zum Gesamtüberblick über die Magisterthemen
und Dissertationsthesen der Stiftler zwischen 1785 und 1795 vgl. Jacobs 1989: 251-
293 und Nicolin 1969/70: 240-246).
Der gottbestimmte Dichter der Spätgedichte (z. B. der Feiertagshymne) ist in
der behandelten ‘Hymne an den Genius Griechenlands’ schon keimhaft enthalten,
und zwar gegen das autonome Dichter- und Genieverständnis im Sinne Herders.
16 Vgl. Quellenliste für Hölderlins Magisterspecimen FHA 17: 67f.