Page 115 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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D er Topos vom „Erstgeborenen                113


      pneumatischen  Logos  erkennbar  bleibt,  so  ergeben  sich  interessante  Aufschlüsse
      für den  möglichen  Untergrund der Erosfigur in  der ‘Hymne’.  Das Bild  des  „von
      oben“  einschwebenden Eros-Logos kann man dann  nämlich als Mythisierung der
      Geburt des griechischen  Genius aus der Präexistenz verstehen. Einer eingehenden
      Philo-Lektüre  möchte  ich  lediglich  eine  markante  Stelle  aus  Herders  Ältester

      Urkunde (1774ff.)  voranstellen,  einer  Schrift,  die  noch  Gegenstand  des  nächsten
      Kapitels  sein  wird.  Herder  stellt  darin  ganz  unmittelbar  die  orphische
      Schöpfungslehre  vom  „Weltenei“  (und  damit  die  mythische  Erosgeburt!)  neben
      die  phiionische  Logosvorstellung.  Er  lehnt  zwar  beides  für  seine  Version  der
      Genesis  ab,  ahnt  aber  ihre  strukturelle  Ähnlichkeit  im  Blick  auf  eine
      Weltentstehung aus der Präexistenz:
          Und  welche tote Seele  kann hiebei [beim allerersten Schöpfungsakt, R.  C.]  an das Ei
          des  Orpheus,  [...]  an  den  Äoyoq  des  Philo  [...]  denken:  Wenn  keine  Verwirrung  zu
          besorgen wäre [...].  (Herder 1993: 51 - Hervorhebung original)
      Bei Herder werden  (orphischer)  Eros und  (phiionischer)  Logos  also  bereits paral-
      lelisiert,  wenn  auch  nur  auf der beschreibenden  Ebene und ex negativo.  An  diese
       „schwache“  Indikation  der  Logos-Eros-Analogie  möchte  ich  dennoch  folgende
       Überlegungen knüpfen, die als Anordnungen im Denklabor aufzufassen sind.

       Vom Logosmessias zum Ruachmessias. Die Vorstellung von der „Erstgeburt“  in der
       besprochenen  Eros-Logos-Parallele  führt  ins  Zentrum  des  phiionischen  Logos­
       verständnisses.  Hölderlin  schwebt  der  „Erstgeborne  /   Der  hohen  Natur“
       (‘Hymne’ V. 3f.) wie bereits zitiert, ausdrücklich vor Augen.
          Zumeist  erscheint  der  Logos  in  den  Schriften  Philos  einfach  als  .Vernunft*  oder
           .Gedanke'  der  Gottheit.  Zuweilen freilich  spricht  Philo vom  .Logos'  wie von einem
          persönlichen Wesen, das von der Gottheit gesondert ist und das er als  .Erstgeborenen
          der   Gottheit',   .Gott'   [...]   oder   auch   .den   zweiten   Gott'   bezeichnet.
           (Klausner  1950:  187)107



        107 Joseph  Klausner weist  auf den  „metaphorischen“  Charakter dieser Analogie  von  „Logos“
           und „Erstgeborenem“ hin  (Klausner  1950:  187f.): Philo spricht nämlich nicht vom Erstge­
           borenen  „Gottes“  (ö  0eö<;),  sondern  vom  Erstgeborenen  „der  Gott  heit“  (0e6<;).  Dieser
           metaphorische  oder  topische  Gebrauch  des  Bildes  vom  „Erstgeborenen“  erhellt  auch
           Hölderlins  Metapher.  Im  18. Jahrhundert  war  die  topische,  man  könnte  auch  sagen:  die
           literarhistorische oder mythische Bibellektüre, wie wir gesehen haben, prinzipiell bekannt.
           Die Reflexion auf den topischen oder mythischen Gebrauch von messian.schen Appositio­
           nen, wie „Gesalbter“,  „Sohn“  oder „Erstgeborener“  in der historischen Bibelkritik des  18.
           Jahrhunderts könnte die Säkularisierung dieser Figuren im deutschen Idealismus und in der
           Frühromantik  vorbereitet  haben.  Die  Relativierung  eines  christlichen  Theologems
           (Gottessohnschaft Jesu) als Topos des Alten Testaments („Erstgeborener“, „Auserwählter“,
           „Gesalbter“)  bereitete  dann die säkularisierende Aushöhlung vor. Hölderlin hätte  mit  sei­
           nen mythomessianischen Figuren also lediglich ein bestehendes Vakuum gefüllt. An dieser
           Stelle bleibt die Argumentation zu recht im Konjunktiv.
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