Page 121 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Der Topos vom „Erstgeborenen 119
und Mensch, sei es in der platonischen Ideenschau des Weisen oder durch die
Offenbarungen des Propheten, so führt das im Falle des griechischen Logos zu
einem Nebeneinander von menschlichem Nous und göttlichem Pneuma. Ein
platonischer Begriff dafür ist die mania,, die Schau des Wahren und Schönen durch
die ekstasis, das Auseinandertreten von Körper und Geist (vgl. Wohlfart 1985/86:
41-46). Der menschliche Nous bleibt also im griechischen Logos autonom. Ganz
anders die semitisch-philonische Auffassung: der göttliche Geist, das Pneuma
Gottes, verdrängt den menschlichen Nous, überkommt und ergreift den
Menschen mit all seinen Sinnen; der Mensch spricht nicht mehr mit
Engelszungen, Gott spricht mit ihm und aus ihm. Der menschliche Nous wird
heteronom und gottbestimmt:
Beide, Philon [sic] wie Lucan, nehmen ein Erlöschen der menschlichen Geisteskraft
und ein Eintreten der göttlichen im Augenblick der prophetischen Erkenntnis an, be
trachten also Nous und Pneuma als unvereinbare Gegensätze. Während die
griechische Theorie vom Prophetismus, wie gezeigt wurde, die Basis für die ästhe
tische Vorstellung vom poetischen und rhetorischen Genie bildete, wurde sie bei
Philo Grundlage seiner Lehre von der vollkommenen Natur. (Lewy 1929: 57)115
Philos Ideal einer „vollkommenen Natur“ des religiösen Menschen ist der
„aüxo|i.axf)q croepoq“ (Lewy 1929: 58), ein Begriff, der zu einer passenden Wort
prägung gegen den klassischen Geniebegriff verleitet: das automatische (oder
nichtautarke) Genie als Gegenbild zum autonomen Genie.
Ich fasse zusammen. Liest man Hölderlins messianische Mythogenese vor
dem Hintergrund eines ruachdurchdrungenen Logos, so kommt man zu einem
heteronomen Genieverständnis, das von der klassischen Autonomieästhetik bei
Goethe, Schiller oder Moritz grundsätzlich abweicht. Im Begriff des griechischen
Genius der ‘Hymne an den Genius Griechenlands’ sind zwei phiionische Denk
figuren enthalten: das kollektive und körperliche Wesen des diesseitigen Messias
(„Genius der Griechen“, „Genius der Deutschen“) und die Doppeldisposition des
religiösen Menschen als heteronomes Subjekt („Genie“). Zwei dialektische Bilder
verdichten diese phiionischen Spuren in Hölderlins Denken: die ikarisch-
herakleische Synthese des Genius-Messias und die „nüchterne Trunkenheit“ des
Künstler-Genies.
115 Auf die Parallele Philo/Lucan gehe ich im III. Kapitel noch genauer ein.