Page 122 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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120                 II.  K apitel: Ruach, Logos,  G eist



                           3.  Herders Ablehnung des phiionischen Logos

           Angesichts  der skizzierten  Zusammenhänge verwundert  es  nicht,  daß  Herder  als
           Wegbereiter  der  Autonomie-Ästhetik  die  Präexistenzlehren  hinter  den
           „kabbalistischen“  und  mystischen  „Erklärungsarten“  der  Genesis  (Herder  1993:

           40f.)  in  seiner  Schrift  Älteste  Urkunde des Menschengeschlechts (1774-76)  verwirft;
           und dies in einem Atemzug mit  all den anderen  „physischen“,  „chronologischen“
           und  „philosophischen“  Spekulationen  (ebd.  21,  ZZ.  18-25),  die er zusammen  mit
           dem   „schädlich[en]   Scholastisch[en]   System-   und   Unterscheidungsgeist“
           abqualifiziert (ebd.  21, 3f.; vgl. ebd. 49, 9-11).
               Mystisch-kabbalistische  wie  naturwissenschaftliche  Ansätze  unterwerfen  das
           Schöpfungsmoment,  so  Herder,  einem  Deutungsschema,  das  der  unvergleich­
           lichen Einzigartigkeit  und  radikalen  Singularität  des  Schöpfungsaktes  nie  gerecht
           werden könne. Für Herder ist Gottes Schöpfung „Alles Ein ewiger vollkommener
           Gedanke“  (ebd.  28, ZZ.  14f.)  und nicht spekulative Begriffsscheidung - also bloße
           Abstraktion, Metapher oder Rhetorik.  Im Verhältnis von  Gott  zu Mensch,  Gott
           und  Schöpfung  ist  „kein  Kommensurables“,  „Gott  denkt  [...]  ohne  alle  Au­
           ßenwerke der Vorstellung“  (ebd. 29, ZZ. 3- 6). Seine Allmacht manifestiert sich in
           menschengemäßer,  also  sprachlicher  Form:  die  „Urkunde“,  das  heißt  die
           „hebräische  Poesie“  des  Buches  Genesis  in  ihrer  künstlerischen  Wohlgestalt
           (Schöpfungshieroglyphe,   Parallelismus,  Rhythmik),   ist   nur  menschliche
           Annäherung  an  die  eigentliche  „Ursache“  der  Schöpfung:  Gottes  unendliches,
           weder  bildlich  noch  sprachlich  oder  philosophisch  faßbares  Schöpfervermögen.
           Folgerichtig verwirft Herder den phiionischen Logos  als  mögliche Erklärung des
           Wunders der Schöpfung:
               Und Elohim sprach: /  Es werde Licht /  und es ward Licht) Ein Heide  hat  die  erhabne

               Simplizität des  Ausdrucks  bewundert,  und  sie  wird  zehnfach  erhabner,  wenn sie  auf
               die  vorige  Beschreibung  folgend,  uns  vorstrahlet.  Mit  einem  Machtworte  der
               Schöpfung,  wird  alle  vorige  fürchterliche  Dunkelheit,  und  Nacht  des  Entsetzens
               vertrieben [...] und Alles ist Licht. [...] - Und welche tote Seele  kann hiebei an das Ei
               des Orpheus und der Aegypter,  an den Loyoq des Philo, und an eine Hervorbringung
               der  Feuerteilchen  und  an  die  Gestalt  derselben  in  einem  Luftphänomenon  oder  gar
               eine Schechinah, u. s. w. denken: Wenn keine Verwirrung zu besorgen wäre: so würde
               ich dies mit Hallern den feierlichen Augenblick nennen:  -  da  auf die Nacht des alten
               Nichts /  sich goß der erste Strom des Lichts [...] (Herder  1993: 5lf. -  Hervorhebungen
               originial)
           Herder favorisiert  den  immanenten  Schöpfungsakt  gegenüber  der  Schöpfung aus
           einer  Quelle  präexistenter  Geistigkeit  oder  Weisheit.  Er  scheint  hier  auf  den
           ersten Blick die  biblische  creatio ex nihilo,  also  die unvermittelte  Weltentstehung
           aus  dem  Nichts  zu  bevorzugen.  Die  emanatistischen  und  hypostatischen
           Schöpfungsmodelle,  die  Herder  abtut  (Philo,  Kabbala,  Orphik),  entsprechen
           dagegen  umgekehrt  einer  „Weltbildung“  aus  den  platonischen  „Weltprinzipien“
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