Page 125 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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III.  Der Flug des Genius

       Die  ideengeschichtliche  Herleitung  von  Hölderlins  messianischem  Genius-  und
       Künstlerbegriff  führte  zwangsläufig  auf  den  Erhebungstopos.  Neben  den
       (neu)platonischen  Erhebungstopoi  sind  die  biblischen  Flugmythen  der  zweite
       Traditionsstrang von Hölderlins ikarischem  Bilderfeld (Genesis, Daniel, Johannes).

       Dieser  theologisch-philosophischen  Vorgeschichte  des  Ikarischen möchte  ich
       anschließend  besonders  nachgehen,  bevor ich  die  mythologischen  Arbeitsbegriffe
       im   einzelnen   ableiten   werde   (vgl.   Kapitel   III. 2ff.).   In   Hölderlins
       Entgegensetzungen  gerät  aber auch  das Heroische in Bewegung;  die tätige  Gestalt
       des Messias-Heros wird vom Messias-Genius  gesteigert und „emporgehoben“.  Ein
       lyrisch  oder  philosophisch  sprechendes  Ich  verherrlicht  sein  herakleiscbes
       Gegenüber.  Das  zeigt  das  Motiv  von  der Himmelfahrt  des  Herakles  in  Schillers
       ‘Das Ideal  und  das  Leben’  oder  in  Hegels  „Der  Geist  des  Christentums  und  sein
       Schicksal“  (1798-1800;  vgl.  Hegel  1986:  408ff.).117  Auch  das  ikarische Ich  in

       Hölderlins  Eduard-  und  Heraklesgedichten  projiziert  das  Flugbegehren  immer
       wieder auf einen  Heros  (‘An  Eduard’ I und II,  VV. 37-40;  ‘An  Herkules’,  VV.  1-
       8).  Die  Flugmythe  ist  also  zentral  für  die  dialektische  Keimzelle  des


       mythologischen  Bilderfeldes  vom  Ikarischen und  Herakleischen. Die  Begriffe  des


       Proteischen und  Dionysischen basieren  auf  dieser  fundamentalen  Antinomie.  Sie
       werden daher im folgenden indirekt mitbegründet.
                       1.  Die Flugmythe von Schöpfung und Erlösung

       Hölderlin hat Herders exegetischen und orientalistischen Ansatz rezipiert; er folgt
       Herder  jedoch  nicht  in  der  Art  und  Weise,  wie  der  das  Schöpfungsmoment
       pantheistisch  verklärt  als  Selbstsetzung  einer  geistigen  Allnatur  („Und  Elohim
       sprach: Es werde Licht  [...]“,  Herder  1993:  51f.).  Mit  seinem  messianischen Dich­
       terbild nähert er sich vielmehr der Vorstellung der phiionischen „Zwischenkräfte“
       (Klausner  1950:  184),  die  einem  präexistenten  Geist  entspringen  und  das
       vormateriell Göttliche mit der Körperwelt in Kontakt bringen.
           Dazu  muß  zunächst  Herders  besondere  Anverwandlung des  Spinozimus  ge­
       klärt  werden.  Erst  dann  werde  ich  näher  auf  die  Flugmythe  bei  Herder  und



        117  Schillers  berühmteste  mythopoetische  Gestaltung  des  Aufschwungmotivs,  die  Himmel­
           fahrt des Herakles  (‘Das Ideal und das Leben’; vgl.  Brief an Wilhelm von Humboldt vom
           29./30.  November  1795), interpretiert Pestalozzi  als  Ablösung der Leibniz’schen  Theodi­
           zee  durch  eine  neue  „Anthropodicee“  (Pestalozzi  1970:  98).  Schiller  rechtfertigt  den
           leidenden, aber perfektiblen Menschen, der in einer Welt aufsteigen muß, in der Gewißhei­

           ten,  Götter  und  Autoritäten  gleichsam  im  Sinken begriffen  sind,  wobei  Schiller  die  Am­
           bivalenz dieses  „Fluges“  als  Triumph  und Taumel  zugleich  bewußt  ist.  Medium  der  Ver­
           vollkommnung  ist  Schiller  die  Kunst  (Poesie  und  Theater).  Damit  kontrastiert  Schillers

           Anthropodizee mit  Hölderlins Modifizierung der  Theodizee in den Tübinger Hymnen, die

           noch stark Leibniz verpflichtet sind (vgl. Binder 1987: 54-57).
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