Page 126 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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124 III. Kapitel: D er Flug des G enius
Hölderlin eingehen. Den pantheistischen Zug von Herders Denken hat das Bild
vom allesdurchdringenden schöpferischen „Hauch“ Gottes bereits veranschau
licht. Außerdem zeigt die Tatsache, daß er alle emanatistischen Modelle des
Schöpfungsvorgangs verwirft („Ei des Orpheus“, „koyoq des Philo, „Schechinah“,
Herder 1993: 51), die spinozistische Konsequenz seines Denkens: Denn das große
„Nichts“, aus dem Gott so erhaben schöpft, ist Herder zufolge dem a nihilo nihil
fit Spinozas näher als der platonischen Vorstellung einer creatio ex nihilo. Erinnert
aber die gefeierte Voraussetzungslosigkeit des Schöpfungsaktes im zitierten Gene
siskommentar Herders nicht gerade im Gegenteil an eine „Schöpfung aus dem
Nichts“? Und wieso sollte Herder hier einer Schöpfungsvorstellung anhängen, die
in letzter Konsequenz zum nihil des Atheismus führt? Dazu möchte ich Herders
besondere Synthese aus spinozistischem Denken und affirmativer Theologie skiz
zieren.
Als Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) mit seinem berühmten Lessing-
Verdikt den Initialfunken zum Spinozastreit schlug (Lieber die Lehre des Spinoza in
Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785), ordnete er dem
„Spinozismus“ diese Schöpfungsvorstellung zu:
Der Geist des Spinozismus [...] ist wohl kein anderer gewesen, als das Uralte: a nihilo
nihil fit [...]. (Jacobi 1785: 14, ZZ. 6-25; zit. n. Folkers 1994: 74)
Die beiden lateinischen Formeln, die creatio ex nihilo und das a nihilo nihil fit,
verdichten zwei grundsätzliche philosophische Denkrichtungen des 18. Jahrhun
derts. Während die Vorstellung von einer creatio ex nihilo auf Plato zurückgeht
und alle Formen des Emanations- und Präexistenzdenkens modellierte, nahm das
aristotelische a nihilo nihil fit die Strömungen des Immanenzdenkens vorweg (vgl.
Franz 1996: 42-63; besonders 58 und 62f.).
Die platonische Denkfigur setzt eine causa transitoria zwischen Gott und der
Welt voraus (vgl. Franz 1996: 63). Das veranlaßte christliche Neu- und
„Mittelplatoniker“ (von Plotin bis Ficino) immer wieder dazu, bei Plato eine
Vorstufe zur Heiligen Dreifaltigkeit zu vermuten und Schlüsselschriften des an
tiken Philosophen, wie z. B. den Timaios, als Zeugnis einer „Theologia Prisca“
oder „Theologia Platonica“ zu lesen (Franz 1996: 18-28). Mit der kritischen Phi
losophiegeschichte des 18. Jahrhunderts kam die platonische „Ur-Theologie“
jedoch immer mehr ins Wanken, als Gelehrte wie Johann Lorenz (von) Mosheim
(1694-1755) oder Jakob Brücker (1696-1770) durch ihre historische Hermeneutik
den Gegensatz zwischen platonischem und aristotelischem Denkmodell auflösten
(vgl. Franz 1996: 47-55). Dennoch war die Antinomie der beiden
Schöpfungsprinzipien noch bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts
parteibildend, wie Jacobis Polemik gegen Lessing zeigt, der sei „Spinozist“ und
damit letztlich „Atheist“ gewesen.
Um diesen Atheismusvorwurf zu verstehen, seien die beiden Denkrichtungen
noch einmal pointiert. Die platonische Vorstellung von einer creatio ex nihilo
begünstigte das theistische Weltbild samt seiner Brechungen durch Hypostasen