Page 127 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die Flugmythe von Schöpfung und Erlösung 125
und die Emanationen Gottes. Mystik und Kabbala,118 *aber auch die phiionische
Messias- und Logosspekulation stehen in dieser Tradition. Transzendenz,
Messianität und Eschatologie haben in diesem Denken ihren unverrückbaren
Platz. Ganz anders dagegen die Denkrichtung eines aristotelischen a nihilo nihil
fit, die von der „Ungeschaffenheit“ der Welt ausgeht: Uber die spinozistische
Vorstellung einer doppelten Substanz, die Hervorbringendes und
Hervorgebrachtes in sich vereint und keines transzendenten Schöpfergottes mehr
bedarf, mündet dieses Denken in die dialektische Geschichtsphilosophie und das
reine Immanenzdenken Hegels. Spinoza und Hegel ragen durchaus bis in den
modernen Atheismus, Nihilismus und Fatalismus hinein. Jacobi ahnte diese Ent
wicklung.
Zwei Wege der Anverwandlung Spinozas vor dem Hintergrund der Philo
sophie des deutschen Idealismus sind für die Deutung der Herderstelle
unverzichtbar, und zwar
1. der Weg der Frühromantiker und Hölderlins, die den Vereinigungsdenker
Spinoza gegen den Trennungsdenker Fichte wenden (Novalis, Schlegel,
Schleiermacher). Aus Spinozas Substanzbegriff gewinnen sie das
Fundament für ihren synthetischen Geistbegriff als Versöhnungsfigur von
Subjekt und Objekt (vgl. Hölderlins Notizen „Zu Jakobis Briefen über
die Lehre des Spinoza“, KHA II: 492-495).
2. der Ansatz Herders und Goethes, die Spinozas Immanenz umdeuten:
„Durch diese Modifikation des Systems Spinozas, die die Immanenz der
göttlichen Substanz als natura naturans inkarnatorisch deutet, kommt
Herder zu einer neuen Sicht der Naturforschung, die ihn [...] mit Goethe
[...] verbindet [...].“ (Folkers 1994: 92)
3. Die Wege, die Jacobi, Schelling und Hegel in je eigener Richtung ein-
schlagen, sollen hier nicht weiter interessieren. Entscheidend ist allein,
daß Herder in seiner spezifischen Spinoza-Synthese das spinozistische
nihil integriert, aber nicht verabsolutiert - was ihm erlaubte, in den
118 Hier scheint der Begriff „Kabbala“ scheinbar falsch zugeordnet; denn Jacobi setzt ja in sei
nem berühmten Diktum „cabbalistische Philosophie“, „Spinozismus“ (Pantheismus) und
Atheismus gleich, indem er in Spinozas Substanzbegriff das kabbalistische „Ensoph“ zu er
kennen glaubt (Jacobi 1785 zit. n. Folkers 1994: 74). Doch Herder ordnet die Kabbala der
entgegengesetzten Tradition zu, nämlich dem emanatistischen Denken („Wer kann sich bei
dem prächtigen Anfänge über das Wort 1 Anfang' Metaphysisch, Chronologisch, und
Kabbalistisch den Kopf zerbrechen [...] ?“ Herder 1993: 49, ZZ. 9-11 - Hervorhebung
original) Diese Spannung löst sich, wenn man kabbalistische Denkfiguren und Begriffe wie
„Sefiroth“ oder „En-Sof“ in ihren historischen Kontext einbettet. Jacobi hatte seine
Vorstellung vom „immanenten Ensoph“ der Kabbala nachweislich nicht aus dem Original,
sondern aus christlichen Quellen geschöpft, z. B. aus den Traktaten Johann Georg
Wächters (1663-1757), vgl. Schulte 1994: 10. Die Zuordnung von „Kabbala“ zur Tradition
von Messianität, Transzendenz und Präexistenz im Fließtext scheint so gerechtfertigt.