Page 128 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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                 Vorstellungen  des  „spinozistischen“  ev  Kai  Ttccv  zu  schwelgen:  „[der
                 Naturforscher, R. C.] sucht und findet, indem er die Absichten Gottes zu
                 vergessen  scheint,  in  jedem  Gegenstände  und  Punkt  der  Schöpfung  den
                 ganzen Gott.“  (Herder,  „Gespräche über den  Spinozismus“  [1787],  zit.  n.
                 Folkers  1994:  92)  Diese  merkwürdige  Mischung  aus  spinozistischem
                 Pantheismus  und  theologischer  Affirmation  ist  signifikant  für  Herders
                 Sonderweg aus der Spinozakrise.
           Auch  Schelling  und  Hölderlin  kokettierten  in  ihrer  Begeisterung  für  revolutio­
           näres  philosophisches  Denken  immer  wieder  mit  der  Komplementärformel  zur
           platonischen creatio ex nibilo, dem a nihilo nihil fit. Und das sogar auf schwäbisch,
           wie Wilhelm G. Jacobs aus dem unmittelbaren Umfeld der Stiftler dokumentiert.
           In einem Brief teilt Philipp Hiemer seinem Bruder Franz Karl die aufrührerischen
           Aktivitäten  ihres  studentischen  „Unsinnskollegiums“  mit  (Jacobs  1989:  33-45):
           neben  dem  Komödienspielen  gehörte  dazu  auch  der  Genuß  von  unbotmäßiger
           Philosophie.  Der schwäbische  Satz verschlüsselt  dabei  die Spinozalektüre:  „Noits
           isch noits und wird noits wärde.“  (Jacobs 1989: 34).
               Interessant  ist  nun  der  gemeinsame  Ursprung  der  nichtklassischen  Gruppe
           (Novalis,  Schlegel,  Schleiermacher,  Hölderlin)  und  der  Klassikergruppe  (Herder,
           Goethe)  im  Blick  auf  ihr  Dichterbild.  Wie  Herder  und  Goethe  sympathisierten
           Hölderlin und Schelling mit  der Immanenz  Spinozas,  wenn  sie  in  ihrer  „wilden“
           Stiftszeit mit der spinozistischen Parole vom „noits isch noits“ prahlten. Doch das
           Gespenst  des  „Determinismus“,120  das  im  Fatalismus  Spinozas  lauert,  konnte  sie
           nicht schrecken. Im Gegenteil: Die Vorstellung von der heteronomen Inspiration,
           der  „Theopneustie“  des  gottbegeisterten  Dichterpropheten,  spiegelte  für  sie  den
           Determinismus  der  Geschichte  in  der  psychischen  Struktur  des  Künstlers  (vgl.
           Schellings  Aufsatzentwurf  „Über  Dichter,  Propheten,  Dichterbegeisterung,  [...]
           Theopneustie  [...]“  von  1792  [Franz  1996:  284ff.]  und  Herders  Gebrauch  des
           Begriffes „Theo-Pneustie“, Herder 1993: 28,1).121
               Man  erkennt,  daß  Herder,  Goethe,  Hölderlin  und  Schelling  in  ihrer  je
           eigenen Spinoza-Adaption zunächst den gleichen  (oder zumindest parallele)  Wege
           beschritten.  Erst  mit seiner Rezeption des phiionischen Prophetismus bei Longin
           zweigt  Hölderlin von  diesem  gemeinsamen  Ausgangspunkt  ab.  Er macht Longin
           „zum Bündnispartner gegen Goethe und Schiller“  (vgl. Vöhler 1992/93:  159).
               Die  reine  Immanenz  Spinozas  fruchtete  damit  nicht  für  das  Dichter­
           verständnis  Hölderlins  (auch  wenn  „Determinismus“  und  „Prophetismus“  im
           Sinne der  „Theo-pneustie“  ja  zunächst  vereinbar  erscheinen).  Er  blieb  mit  seiner




            120  Vgl.  Hölderlins Jacobi-Wiedergabe:  „Wenn  der Determinist  bündig sein  will,  muß er zum
               Fatalisten werden; dann gibt sich das übrige von selbst."  (KHA II:  492, ZZ.  llf. - Hervorhe­
               bung original)
            121  „Theopneustie“:  „Göttliche  Eingebung,  Inspiration“  (Rudolf Smend,  Herder  1993:  1339,
               Kommentar z. St.)
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