Page 130 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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128                 III.  Kapitel: D er F lu g des G enius


          Herders  „Hauch“,  den  er  auch  mit  „Atem“  und  „Wind“  umschreibt,  wie  es  das
          hebräische  Wort verlangt,  zielt  darauf,  den  Schöpfungsprozeß  Gottes  mit  einem
          psychologischen Inspirationsakt  gleichzusetzen,  in  dem  die  materielle oder pneu­
          matische  Natur  des  Geistes  als  „Hauch“  oder  „Wind“  betont  wird.  Der
          Schöpfungsakt  bleibt  irrational  und inkommensurabel.  Die  wesensmäßige  Eigen­
          ständigkeit  des  „Hauches“  ist  viel  weniger  profiliert  als  die  des  „Geistes“  bei
          Luther.  In  den  vielen  Entlehnungen  aus  klassischer  und  zeitgenössischer  Natur­
          poesie, die sein exegetisches und übesetzerisches Werk durchziehen, findet Herder
           dementsprechend viele Echos auf die Unermeßlichkeit des göttlichen Geistes. Der
           „heilige  Schauer“,  das  „Wehen“  und  „Rauschen“  aus  Klopstocks  Gedicht  ‘Dem
           Allgegenwärtigen’  sind  der  poetische  Widerhall  des  voraussetzungslosen
           schöpferischen  Uraktes.  Dabei  hallt  in  der  hymnischen  Naturpoesie  Klopstocks
           gleichsam  die  Resonanz  der  Handlungen  Gottes  im  Bild-  und  Sprachraum  der
           künstlerischen Imagination  nach.  Der Schöpferakt  Gottes  ist  wiederum  nur Aus­
           strömung  einer  göttlichen  Einbildungskraft,  die  immer  nur  vermittelt  als
           Annäherung  oder  Echo  vorstellbar  bleibt.  Gott  gleicht  einem  Künstler,  Gottes
           Akte  sind  „künstlerischer“  Natur.  In  der Vorstellung  des  Menschen,  in  den  Na­
           turgedichten  der  verschiedenen  Kulturen  und  Epochen  erklingt  immer  wieder
           aufs  neue,  in  je  unterschiedlicher  künstlerischer  Form  und  im  gleichsam  folk-
           loristischen  Lautgewand  der  jeweiligen  Sprache,  ein  inniges  Echo  des
           Schöpfungsvorgangs.  Der  „heilige  Schauer“  im  Sinne  von  „Luftzug“  und
           „Erschütterung“ vereint das Wesen ätherischer Stofflichkeit  und spiritueller Geistig­
           keit.'22  So  meistert Herder im  pantheistischen  Geiste  eines gläubigen,  wenn  auch
           nicht  dogmatisch  frommen  Protestantismus  das  Problem  der  Dichotomie  von
           Logos  (Sinn,  Geist)  und  Pneuma  (Äther,  Luft):  Gottes  Unendlichkeit  kann  man

           nicht in  mythischen  Gestalten und Bildern  durchschauen, sondern sie kann einen
           umgekehrt  nur,  wie  Herder es  ausdrückt,  wie eine Elementargewalt  kraft  großer

           Erschütterungen „durchschaudern“ (vgl. Herder 1993: 50, Z.  14; Zitat folgt).
               So  verwirft  Herder  im  Zusammenhang  mit  dem  Schöpfungsspruch  alle
           „dogmatischen“  oder  „kabbalistischen“  Versuche,  im  Schöpfungsspruch Energien
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           oder Elemente  für  eine  scholastisch  beweisbare  Dreieinigkeit  oder  gar  mystische 1



            122  Um  das  uranfängliche  „Chaos“,  die  „Nacht“  vor  der  Schöpfung  zu  beschreiben,  bedient
               sich Herder ausgiebig der typischen Lyrismen Klopstocks: „Welche Nacht! und sie wird in
               der  Mosaischen  Urkunde  gleichsam  noch  durchschaudemder:  Wir  fühlen  ,den  Hauch
               Gottes  sich  auf flutenden  Gewässern  wälzen:*  ein  kühler  nächtlicher  Schauer,  wie  wenn
               wir in der dunkelsten Finsternis auf dem Meer von ihm durchdrungen werden, fährt durch
               unsre Glieder.  / /   ,Mit  heiligem Schauer /  fühl ich das Wehn, /  hier ist  das Rauschen der
               Lüfte! /  Es hieß sie wehen und rauschen /  der Ewige! /  Wo sie wehen und rauschen /  ist
               der Ewige!*  / /   Das  ist  das  .Rauschen  des  nächtlichen  Windes,  in  dem  Gott  wandelt*  das
               nur ein Klopstock beschreiben kann, und mehr als einmal beschrieben hat.“ (Herder 1993:
               50, ZZ. 22-37)
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