Page 129 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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D ie Flugmythe von Schöpfung und Erlösung        127


       prophetischen  Poetik  einer  messianischen  Transzendenz verhaftet.  Diese  Trans­

       zendenz  ist  allerdings  weniger  eine  substanzielle  Garantie  der  Erlösung,  als
       vielmehr eine Antriebsenergie für die innerweltlichen Projekte einer Synthese von
       Religion, Philosophie, Poesie und Politik.  Hölderlin denkt nicht fromm,  sondern
       in einem  gläubigen  Sinne  utopisch.  Auch  die  transzendent  motivierte,  immanent
       wirksame  Erlösung  ist  für  Hölderlin  keine  Garantie,  sondern  eine  Energie  des
       Ansporns.  Herder  und  Goethe  dagegen  gelangten  zuletzt  zu  einer  Autonomie-
       und  Genieästhetik,  die  kein  eschatologisches,  prophetisches  oder  messianisches
       Moment mehr kennt.
          Herders pantheistischer und Hölderlins modifiziert phiionischer Blick auf die
       Schöpfung  bevorzugen  also  eine  gegensätzliche  Vorstellung  vom  Schöpfungs­
       augenblick.  Das  zeigt  sich  nicht  nur in  ihrer je  eigenen  Rezeption  von  Spinoza,
       Longin  oder  Plato,  sondern  auch  in  ihren  Bildvorlieben.  Während  Hölderlin  in
       Anlehnung an Philo  und das Alte Testament die Geistinstanz zwischen Gott und
       Mensch  auskoppelt  und  in  der  Gestalt von  Vogel-  oder  Flugwesen  poetische  Ei­
       gengestalt  verleiht,  malt  Herder die elementare Gewalt  eines  göttlichen  „Windes“
       oder  „Hauches“  aus.  Dieses  Bild vom  substanziell  gedachten  Äther  ist  als  natür­
       liches Analogon zum Urheber künstlerischer Schöpfungen intendiert, der letztlich
       ungreifbar bleibt.  Gottes  Schöpfungs- und Erlösungmacht  gewinnt  bei Hölderlin
       mythisierte  Gestalt-,  bei  Herder  bleibt  sie  pantheistisch  umschriebene,  unsagbare
       und elementare Gewalt.
          Schon  aus  Herders  Übersetzungen  der  ersten  Verse  des  Schöpfungsberichts
       (1 Mo  1,2)  spricht  eine  polemische  Absicht.  Gegen  die  protestantische
       Orthodoxie gibt er den über den Wassern schwebenden Geist Luthers121  mit dem
       göttlichen  „Hauch“ wieder, der die Wasser „bewegt“  („Über die ersten Urkunden
       des  menschlichen   Geschlechts.   Einige  Anmerkungen.   Erste  Urkunde.
       3. Abschnitt“). Der Vergleich der Stellenwiedergabe bei Herder und Luther belegt
       das (erstes Zitat im Original kursiv):
                     Und die Erde war wüste und leer,
                     und Finsternis lag auf der Oberfläche der Gewässer
                     und der Hauch Gottes bewegte die Gewässer.  (Herder  1993: 50)
                     Und die Erde war wüst und leer,
                     und es war finster auf der Tiefe;
                     und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. (Luther 1985)




        121  Die Gleichsetzung „protestantische Orthodoxie“ mit der Lehre Luthers ist unscharf.  Zum
          einen  ist vor allem die  Tübinger Amtstheologie sehr pietistisch gefärbt  (z. B.  durch  Storr
          und Reuß)  und damit  keineswegs in einem eindimensionalen Sinne „lutherisch“.  Zum an­
          deren verlangt  auch das  Verhältnis  Hölderlins zu Luther eine  genaue  Differenzierung.  So
          ist die weltliche Geschichte für den großen Reformator lediglich eine „Mummerei“ Gottes,
          während  Hölderlin  an  Geschichte  und  Mythologie  als  Offenbarungsquelle  festhält  (vgl.
          Binder 1987: 69f.; Killy 1985: 66-83).
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