Page 131 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die Flugmythe von Schöpfung und Erlösung 129
Vielgestalt Gottes aufzupüren.123 Wenn Herder sowohl orthodoxe wie mystische
Mutmaßungen um die Einheit Gottes disqualifiziert, um Gott im Bild einer
pantheistisch-pneumatischen Allnatur gespiegelt zu sehen, dann lehnt er damit
auch ein metaphorisches Bildprogramm ab. Herder verwirft die vielen gelehrten
und bildertrunkenen Hypostasen und Halluzinationen von der Gestalt des
Schöpfergottes:
Es scheint mir schwer, hier eine dritte Person der Gottheit zu finden, und auch selbst
das Bild des Brütens scheint zu weit abzuführen auf die Göttliche Taube. [...] Selbst
der Begriff von „würksamer Kraft“ muß sehr innerhalb des Bildes bleiben, und sich
nicht unter die Newtonischen Bewegungskräfte verlieren: denn hier sind .leere, wüste
Finsternisse, und ein lebendiger webender Hauch Gottes auf der Fläche flutender
Meere“ die uns durchschaudernden Bilder. (Herder 1993: 50, ZZ. 37- 51, Z. 3 und 50,
ZZ. 8-14)
Herder verwirft die Vogelmetaphorik der christlichen Logosvorstellung ebenso
wie die anderen Gleichungen und Gesichte von Zwischenkräften oder Mittler
wesen, also physikalische („Kräfte“) und mythologische Erklärungen („Wesen“)
des Schöpfungswunders. Er ruft dabei das Spektrum von der Mythologie bis zur
empirischen Naturwissenschaft auf, indem er die Taube des
Matthäusevangeliums124 und die „würksame Kraft“ der Newtonschen
Gravitationstheorie stellvertretend nennt.
Herder verabschiedet also die Geistvorstellung des semitischen Logos - ein
mal jüdisch verkörpert in der messianischen Logosspekulation Philos und zum
anderen christlich gewendet in der Taube des Heiligen Geistes bei Matthäus.125
Damit verschärft er die Polarisierung zweier Stränge von Ursprungsbildern der
Schöpfungsmythologie, die im Alten Testament schon vorgeprägt sind: die Uber
123 „Wer kann sich bei dem prächtigen Anfänge über das Wort Anfang' Metaphysisch,
Chronologisch, und Kabbalistisch den Kopf zerbrechen, und Zeit und Ewigkeit scheiden
wollen! Wer kann aus dem .schuf“ über Nichts und Sein, über Ding und Unding streiten,
und bei dem Wort .Elohim schuf“ an Dogmatische Beweise für die Dreieinigkeit denken!“
(Herder 1993: 49, ZZ. 9-15)
124 „Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube
herabfahren und über sich kommen.“ (Mt 3, 16) - Gegen diese Flugvorstellung wendet
sich Herder ebenso wie gegen den Gedanken eines „Brutvorgangs“, der über das Vogelbild
mit der „Schwebe“ korrespondiert und heidnisch-orientalische Kosmogonien um ein
„Welten-Ei“ integrieren sollte: „Das von ihm [Herder, R. C.] mit .Bewegen“ (Luther:
„Schweben“) übersetzte hebräische Verb wurde nach syrischem Vorbild gern als .Brüten“
verstanden, von wo sich scheinbar einerseits die Brücke zum Weltei, andererseits die zur
Taube als Bild des Gottesgeistes in Mt 3, 16 schlagen ließ.“ (Rudolf Smend, Herder 1993:
1342, Kommentar z. St. 51, 1).
125 Allerdings gibt es das Bild vom göttlichen Hauch oder Wind auch in der Ekstasislehre
Philos: Wenn der Mensch Gott schaut, dann bewegt der „Geist Gottes“ den Menschen
„wie die Saiten eines Instruments“ (Quis rerum divinarum heres sit I, 511, zit. n. Klausner
1950: 195).