Page 132 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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130 III. Kapitel: D er Flug des G enius
lieferung des Schöpfungswerks aus 1 Mo 1,1 - 2,3 bzw. 1 Mo 2, 4-25 und die
Varianten aus späteren Schriften des Alten Testaments.126 Die Überlieferung aus
Genesis ist der Komplex, den die Forschung als Gen I bezeichnet (Ranke-Graves
1994: 23-33; Gegenüberstellung von Gen I und II ebd. 27).
Diese Genesistexte umfassen die Schöpfung der Welt im Schema der sieben
Tagewerke, die Herder als „Schöpfungsgesang nach Tagewerken“ deutet (Herder
1993: 31, Z. 2), und den gesonderten zweiten Bericht „Von der Genesis der
Menschen. Eine Sammlung einzelner Nachrichten“ (Herder 1993: 67, ZZ. 2f.).
Dieser Schöpfungspoesie gilt Herders ganzes Augenmerk. Aus Gen I destilliert er
die großen pantheistisch-pneumatischen Schlüsselmetaphern vom „Hauch“,
„Wind“ oder „Atem“ Gottes, die unmittelbar Gottes Subjektivität entströmen
und die Wasser des Materiellen bewegen, und zwar noch vor aller Artikulation
durch den göttlichen Logos.
Dagegen gibt es weitere Varianten der Beschreibung des Schöpfungsaktes, die
über das ganze Alte Testament verstreut sind. Ranke-Graves nennt diese Tradition
die „Schöpfung nach anderen biblischen Texten“ oder Gen II (Ranke-Graves 1994:
34-40). Diese Texte sind wahrscheinlich eine Art Hintergrundrauschen orienta
lischer und antiker Kosmogonien, die ihr fernes Echo vor allem in den späteren
Schriften des Alten Testaments hinterlassen haben. Auf Gen II wirkten offenbar
noch ugaritische und kanaanitsche Mythologien ein; die Überlieferung ist vielge
staltig und läßt sich nur schwer vereinheitlichen. Ein solch komparatistischer
Blick auf die verschiedenen Schöpfungsmythen war auch für Hölderlin und seine
Kommilitonen am Stift schon üblich. Das hat Wilhelm G. Jacobs bei seiner Un
tersuchung der Arbeitsthemen der Stiftler bestätigt (vgl. Jacobs 1991: 34f.). So
betrachtete Gottlieb Friedrich Rau (1766-1829) in seinem Magisterspecimen von
1787 über „Variae de Cosmogonia, imprimis Mosaica opiniones“ die biblische
Schöpfungsgeschichte als Mythenerzählung. Dies geschah in enger Anlehnung an
den Vater dieser „Mythentheorie“, Johann Gottlieb Eichhorn (1752-1827), der in
seinem anonymen Zeitschriftenbeitrag über die „Urgeschichte“ zum ersten Mal
die drei ersten Genesiskapitel mythisch deutete (vgl. [Johann Gottlieb Eichhorn:]
„Urgeschichte. Ein Versuch.“ In: Repertorium für Biblische und Morgenländische
Litteratur, Teil 4, Leipzig 1779, S. 129-256 zit. n. Jacobs 1991: 34f.)
Robert Ranke-Graves diskutiert das Gewimmel der Spuren von orienta
lischen Schöpfungsvorstellungen in der Bibel wie die vom „Welten-Ei“, vom
Firmament als „Himmelszelt“, von „Ur-Ungeheuern“ wie „Leviathan, Rahab und
Großer Drache“, von matriarchalischen Erdgottheiten und tosenden Elementen
wie „Tohu“ und „Bohu“ (Ranke-Graves 1994: 36f.). Ein Bilderstrang fällt dabei ins
Auge: die Mythisierung des jahwistischen Geistes als Adler:
126 Bei Herder entspricht das den Stellenangaben „Erste Urkunde [...] 1 Mos. 1. und Kap. 2.
V. 1.-3.“ und „Zweite Urkunde [...] 1 Mos. 2 V. 7-23“.