Page 133 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die Flugmythe von Schöpfung und Erlösung 131
Daß der Geist Gottes in Genesis 1, 2 über die Fläche des Wassers schwebt, läßt an
einen Vogel denken, und in einem frühen biblischen Gedicht wird Gott tatsächlich
mit einem .über seinen Jungen flatternden Adler' verglichen. (5 Mo 32, 11; Ranke-
Graves 1994: 37)
An dieser Stelle lokalisiert auch Ranke-Graves die Bruchkante zwischen der ma
teriell gedachten Bildtradition des Geistigen und dem mythischen Figurenschatz,
den das hebräische Wort ruach evoziert:
Aber das Wort ruach, das gewöhnlich mit .Geist' übersetzt wird, bedeutet ur
sprünglich ,Wind‘, was an den phönizischen Schöpfungsmythos erinnert, den Philo
von Byblos zitiert: Auf das frühe Chaos wirkte der Wind ein, der sich in seine eigenen
Elemente verliebte.“ (Ranke-Graves 1994: 37 - Hervorhebung original)
Von einer Adlergestalt oder einer ähnlichen mythischen Mittlergestalt zwischen
Gott und der Schöpfung ist in Gen I nirgends die Rede. Nur die eigenwillige
Übersetzung des göttlichen Geistes als ein über allen Wasser „schwebendes“ Wesen
schuf die Voraussetzungen dafür, daß die semitische Geistvorstellung, wie in
Gen II offenbar, vielgestaltig ausgedeutet werden konnte.127 Neben abstrakte
Hypostasierungen traten konkrete, wie der neuplatonische „Lebensquell“ (ebd.).
Diese natürliche Bildlichkeit vervollständigt die Überlieferung von Gen II schließ
lich mit der ornithomorphen Mythologie von Adler und Taube. Zwei Bild
programme scheinen je unterschiedliche Schöpfungsvorstellungen zu
veranschaulichen: Der Primat von „Wind“, „Atem“ und „Hauch“, den Herder
aufgreift, zeugt von einem pantheistisch und pneumatisch aufladbaren
Schöpfungsbegriff, wie er sich aus einer Vorliebe für die Tradition von Gen I
ergibt; die Überlieferung von Gen II, zwar disparat strukturiert und über das Alte
Testament verstreut, in Psalter, Weisheitsliteratur und prophetischen Büchern
konzentriert (vgl. Ranke-Graves 1994: 35, Anmerkungen Nr. 1-6), kennt dagegen
die Flugmythe. Auch verwandte Bilder wie die „Stürme“, auf denen Gott „reitet“
oder die Winde als „Boten“ Gottes, sind verkappte Flugtopoi:
Während Gott das Werk der Schöpfung vollbrachte, ritt Er auf Wolken oder auf
Cherubim oder auf den Flügeln des Sturmes über der Tiefe, oder Er griff nach
vorüberstreifenden Winden und machte sie zu Seinen Boten. (Ranke-Graves 1994: 34)
Diese Flugmythen entsprechen der Vorstellung vom präexistenten Schöpfungs
wort, aus dem alles ersteht. Der Psalm veranschaulicht im übrigen die Analogie
von „Geist“ , „Wind“, „Mund“ und „Wort“ in einer wunderschönen Bilderreihe:
127 Vgl. zur Bedeutung der Hypostasierungen des Bösen als Vorstufe zur Verköperung einer
eigenständigen Satansgestalt neben und gegen Gott Carsten Colpe in: ders./Schmidt-
Biggemann 1993: 13-89: „Das Böse in alter Religion und Mythologie.“