Page 134 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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              Der  Himmel  ist  durch  das  Wort  des  Herrn  gemacht  /   und  all  sein  Heer  durch  den
              Hauch seines Mundes. (Ps 33, 6 ) 128
          Zwei  Bilder-  und  Mythenstränge  lassen  sich  also  vorsichtig  isolieren:  erstens  die
          unmittelbare  pantheistische  „Theo-Pneustie“  Herders,  d. h.  die  künstlerische  In­
          spirationstheorie  für  den  Schöpfungsakt  mit  ihrem  natürlich-elementaren

          Bildprogramm;  und  zweitens die  mittelbare,  prophetisch-messianische  „Theo-
          Logie“  der  mystischen  und  kabbalistischen  Schöpfungsmythologien,  die  einem
          „Wort“  oder  „Spruch“  entspringen,  einer  Sprachinstanz,  die  über allem  schwebt
          und vor  allem  ist.  Uber Philo  und die semitische Ruach  als Kern  der christlichen
          Logoslehre  hat  diese  zweite  Auffassung über  Longin  auch  auf Hölderlin  gewirkt
          (vgl.  Vöhler  1992/93:  152-172;  Lewy  1929:  49).  Nun ergibt  sich  auch unabhängig
          davon eine Affinität zwischen Flugmetaphorik und Logosspekulation aus Herders
          Deutung  der  Genesis  („Und  Elohim  sprach:  Es  werde  Licht  [...],  Herder  1993:
          5 lf.).  Diese  Flugbildlichkeit  als  Schlüsselmythe  von  Schöpfung und  Erlösung  ist
          auch für Hölderlins mythomessianisches Verfahren zentral.
              Während  Herders  Interpretation  der  Schöpfungslehre  (bei  aller  genetischen
          Parallelität  zu  Schellings  und  Hölderlins  Prophetismus)  das  Postulat  der  Au­
          tonomie-Ästhetik vorbereitet  und nicht  länger eschatologisch  interessiert  zu  sein
          scheint,  bewahrt  die  Traditionslinie  der  phiionischen  Logosspekulation  und  der
          jüdischen  Weisheitslehre  den  religiösen  Charakter  des  Schöpfungsvorgangs.
          Hieran  knüpft  Hölderlin  an.  Der  Schöpfungsvorgang  ist  Modell  und Spiegel  des
          Inspirationsprozesses und damit letztlich auch des Erlösungsgeschehens.  Auch die
          messianische  Potenz  des  präexistenten  Geistwesens  ist  hier  gesichert:  seine
          „Flugeigenschaften“  wappnen  den  wortbeflügelten  Messias  für  eine  Rettung  der
          Welt.
              Eine  Gegenüberstellung  der  behandelten  Aspekte  soll  den  Gang  der  Argu­
          mentation noch einmal zusammenfassen:

                1. pantheistischer Logos (Herder)    2. phiionischer Logos (Hölderlin)

                 „Hauch“, „Atem“, Wind“                „Adler“, „Taube“

           Iukommensurabilität des Schöpfungsaktes   Sprachliche Kommensurabilität des Aktes
                     ex nihilo nihil fit      Präexistenz des Geistes (creatio ex nihilo)

             Autonomieästhetik und Künstlergenie  Heteronomie des religiösen Mittlers




           '28  ygj  auch andere Psalmen, die den Flugtopos im Zusammenhang mit den Mittlerinstanzen
              oder „Boten“ Gottes gestalten: „Du fährst auf auf den Wolken  wie auf einem Wagen /  und
              kommst daher auf den Fittichen des Windes, / /  der du machst Winde  zu deinen Boten /
              und  Feuerflammen  zu  deinen  Dienern“  (Ps  104,  3f.);  „Und  er  fuhr  auf dem  Cherub  und
              flog daher, /  er schwebte auf den Fittichen des Windes.“ (Ps  18,  11)
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