Page 19 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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H ölderlins messianische Mytbogenese 17
Figur. Als Mythen der Erlösungshoffnung sind sie gleichsam die These.
Empedokles und Prometheus verkörpern dagegen die negative Seite, das tätige
Scheitern oder die Antithese. Chiron und Odysseus dagegen bilden die Synthese:
„Ulyß“ als Mischung aus Warte- und Vollzugsmythe - verdichtet in der Formel
vom „herrlichen Dulder“, also von Triumphator und Leidensmann. Chiron als
Weiser und Heldenerzieher, Heil- und Waffenkundiger. Im proteiscben Übergang
dieser Figuren zeichnet sich auch das Höchste und Letzte ab, was Hölderlin
vorschwebte: die Überwindung des Tragischen im Zeichen des Messianischen.
Zwischen den Oden ‘Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter’ einerseits
und ‘Chiron’ andererseits klafft eine Bruchkante: die Zäsur zwischen dem tragi
schen Mythos- und Schicksalsbegriff („tragische Ode“, Empedokles) und der
messianischen Transzendierung des Tragischen (‘Chiron’). In beiden Fassungen
der Chiron-Ode manifestiert sich dieser Bruch noch einmal: als Übergang vom
tragischen Stadium („Blindheit“ und „Traurigkeit“ des mythischen Sängers) zum
messianisch erleuchteten Stadium (Vision und Freude Chirons). Die Sophokles
übersetzungen sind zeitgleich mit den „Nachtgesängen“ bereits Versuche, das
Tragische durch einen hesperischen Messianismus zu transzendieren. Erosstand
lied und Niobemythos aus der ‘Antigonae’ illustrieren, wie Hölderlin die
mythischen Denkfiguren der antiken Tragödie mit christlichen Entsprechungen
wiedergibt, ja geradezu wider-gibt, wenn man an dieser Stelle die Wortschöpfung
im Geiste des Dichters nicht scheut: Hölderlin macht „Hölle“ aus „Hades“
(‘Antigonae’, V. 597); mehr als eigenwillig läßt er den Chor den Geist des Eros
anrufen wie den Schöpfergeist der Genesis, der „über Wassern schwebet“ (ebd.
V. 815).21
Die proteische Metamorphose ist historisch nur in der Folge einer zunehmen
den Desillusionierung der deutschen Intellektuellen durch die terreur seit 1793/94
und den Beginn des Ersten Koalitionskrieges 1792 zu verstehen. Hölderlin nimmt
die Gestalt des tätigen Befreiers, Retters und Reinigers zurück: Herakles
absconditus. Aber nur vorläufig.
Die frühen Herkules-Stilisierungen aus der Zeit der Tübinger Hymnen (‘Das
Schicksal’; ‘An Herkules’; ‘Dem Genius der Kühnheit’) und die Odysseus-Para
phrase in der Hymne ‘An die Unerkannte’ leben in den Fassungen des Hyperion
weiter (wie der „herkuleische“ Alabanda), überwintern in den „Nachtgesängen“ in
proteisch verborgener Gestalt, um am Licht einer neuen Hoffnung zur Jahr
hundertwende wieder wachgerufen zu werden für die Gestaltung der
messianischen Vision in den „Vaterländischen Gesängen“ und hymnischen Ent
würfen. Transformiert vom römisch-stoischen Heldenbild erwacht der Heros
unter seinem griechisch-soteriologischen Namen in neuer messianischer Gestalt.
21 Vgl. Erosstandlied 3. Akt, 2. Szene (Chor der Thebanischen Alten): „Geist der Liebe, den
noch Sieger / Immer, in Streit! Du Friedensgeist, der über / Gewerb einnicket, und über
zärtlicher Wange bei / Der Jungfrau übernachtet, Und schwebet über Wassern, / Und
Häusern, in dem Freien“ (KHAII: 890, W . 811-816)