Page 20 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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18                            Einleitung


           Im  „Nachtgesang“  ‘Chiron’  verheißt  der  weise  Kentaur  dem  Knaben  Achill
           „Herakles Rückkehr“.  Der proteische Held  Chiron  schickt  sich  zugleich  an,  den


           kleinen  Achill  zu  einem  herakleischen Helden  der  Zukunft  auszubilden.  Das Lei­

           densmoment Chirons und die Erlösungskompetenz des Herakles konvergieren im

           Bild  vom  „Dulder  Ulyß“,  der  zum  proteisch gesteigerten  Helden  wird.  In  der
           vierten  Triade  der  ‘Friedensfeier’  schließlich  rückt  Hölderlin  den  „Fürsten  des
           Fests“,  eine  Gestalt  von  der  Kontur  des  „Friedefürsten“  Jesajas  (Js 9, 5.b),  in  die
           Nähe des Herakles, der sein Hesperidenabenteuer besteht.
               Hier  scheint  die  Synthese  vollkommen:  der griechische  Mythos  vom  heroi­
           schen  Befreier  dient  Hölderlin  zur  Verkörperung  eines  geschichtlichen
           Idealkönigs im Sinne der jüdischen  Prophetik,  der das christliche  Hesperien befreit
           und  erlöst.  Die  ‘Friedensfeier’  besetzt  damit  einen  Pol  im  Spannungsfeld  der
           „politischen“  Theologie:  die messianische Legitimierung des  autokratischen  Für­
           sten  in  einem  staatsaffirmativen  Sinne.  Das  entspricht  der  „kratologischen“

           Dimension  der  Politischen  Theologie,  von  griech.  krdtos für  „Macht“  oder
           „Herrschaft“  (vgl.  Assmanns/Harwich  in Taubes  1993:  178f.)  Der „Bund der Ne­
           mesis“  und  Johannes  der  Täufer  aus  ‘Patmos’  II  markieren  den  Gegenpol,  die
           zelotische  oder  sozialutopische  Linie  revolutionär  gewer deter  Theologie  (vgl.
           ebd.).
               In Zeiten von Entrechtung und Unfreiheit war das jüdische Volk gezwungen,
           Herrscherlegitimität  und  Staatlichkeit  gleichsam  „auszulagern“  (Taubes  1993:

           179).  Dies  geschah  sublimativ in  der  Messiasidee,  die  alle  Institutionen  und

           Fremdherrschaften überstand;  und zum  anderen substitutiv in  der Identifizierung
           der assyrischen und persischen Herrscher mit dem Messias in fremder Gestalt, wie
           z. B.  in Jesajas Kyruslied  (Js 44,  24ff.).  Auch  in den mythischen und historischen
           Deutungsversuchen,  die die Forschung auf Hölderlins  „Fürst  des Fests“  gemünzt
           hat,  sind  diese  beiden  Stränge  nachvollziehbar.  Die  „Theologie  der  Herrschaft“
           eines vermeintlich deutschen Kyrus steht gegen die „Theologie der Gemeinschaft“
           einer  Kronos-  oder  Christusfigur  als  Wiederbringer  eines  herrschaftsfreien
           goldenen Zeitalters (vgl. Taubes  1993:  179-181).
               In ‘Wie wenn am Feiertage...’ betont Hölderlin ganz im Sinne Jesajas die not­
           wendige  „Verhüllung“  der  Herrlichkeit  des  kommenden  Gottes.22  Auch  das
           Deutungsgebot  (und Bilderwerbot)  am Ende von  ‘Patmos’  betont  die strenge Mit­
           telbarkeit  Gottes  und  seines  Heilsbringers.  Beide  Aspekte  der  Messiasgestalt  bei
           Jesaja,  die  „Knechtsgestalt“  (Js  52,  13ff.)  ebenso  wie  das  gefeierte  diesseitige
           Königtum  des  Kyrusliedes  (Js  44,  24ff.),  verdichten  sich  in  Hölderlins  später
           Synthese.



            22  Hölderlins  spätes  Verhüllungspostukt  lediglich  als  pietistischen  Einfluß zu deuten,  greift
               zu kurz (z. B. Binder  1987:  69f.). Man muß vielmehr bis auf den jüdischen Kern des pieti­
               stischen   Chiliasmus   zurückgehen.   Die   Diskussion   von   Heinrich   Corrodis
               Standardgeschichte  über  den  Chiliasmus  wird  zeigen,  daß  dem  18.  Jahrhundert  diese
               „judaisierenden“ Momente bewußt sind.
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