Page 155 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die ikarische Phase                    153


           Exemplarisch  zeigt  Hölderlins  Kolumbusfigur  damit  die  gelungene  Ver­

       bindung aus messianischen und ikarischen Zügen:  als „Moses“, der nicht durch das
       Rote, sondern über das atlantische Meer führt; und als ikarische  „Taube“, die einen
       neuen  geographischen  und  geistigen  Kontinent  entdeckt.  Eine  Affinität  zur
       Sphäre von  Naturwissenschaft  und Astronomie  beweist  Kolumbus  zudem  durch
       seine Leistungen als Astralnavigator, Kartograph und Landvermesser. Ähnlich wie
       Chiron,  der  Lehrer,  Arzt  und  Astronom,  verkörpert  Kolomb  diese  synkre-
       tistische Wechselvollendung.


                       3.2  Die ikarisch-herakleische Entgegensetzung



       In  den  Werkphasen  lassen  sich  ikarische Bilder  von proteischen Metamorphosen
       unterscheiden.  Diese  gesteigerten  Formen  möchte  ich  als  ikarische Erinnerungen
       im proteischen Zustand bezeichnen und im  folgenden  (3.3)  näher bestimmen.  Zu­

       nächst  sei  noch  mehr  über  die  Funktion  der  komplementären  Entgegensetzung
       gesagt.  Dies  soll  anhand  der  Figuren  von  Prometheus  und  Ganymed  geschehen,
       die  diametral  über  die  Synthese von Geist-  und  Tatprinzip  hinausragen  und  des­
       wegen  auf  ganz  besondere  Weise  transformiert  und  schließlich  überwunden
       werden.


           Ganymed  zählt  im  Hyperion zunächst  noch  zur  ikarischen Bildergruppe
       (KHA  II: 64,  ZZ.  16-18).  Der  Schönste  der  Sterblichen,  der von  Zeus  in  Gestalt
       eines Adlers in den Himmel entführt wird, um dort den Göttern als Mundschenk
       zu dienen,  ist  geradezu  ein Wunschbild für Hölderlin:  der  „Liebling“  der Götter
       kontrastiert  mit  dem  späteren  Dichterbild  vom  „Fremdling“  im  eigenen  Haus
       (=  Odysseus).  Ganymed verkörpert  die gelungene Erhebung des Menschen unter
       die  Götter;  er  ist  gleichsam  ein  Ikarus  vor  dem  Sturz.  Verlängert  der

       Ganymedmythos  die  ikarische Disposition  ins  Positive,  so  steht  Prometheus  für

       die  Übertreibung  der  herakleischen Tatoption.  Im  Ganymedmythos  vergegen­
       wärtigt  Hölderlin  seine  Fähigkeit,  ein  Mythensubstrat  zu  steigern  und  den
       Brüchen seines Denkens in einer neuen Synthese Ausdruck zu geben. Im Hyperion
       gebraucht Hölderlin die Ganymedanspielung noch ganz unbefangen im ikarischen
       Sinne (KHA II: 64, ZZ.  16-18); Hyperion  äußert den  ganymedischen Flugwunsch
       noch vor seiner schuldhaften Verstrickung und seinem prometheischen Fall.  Ganz
       anders in der Ode ‘Ganymed’: Hier ist Ganymed proteisch  geronnen zum Bild des
       Ausgleichs  zwischen  titanischem  „Zorne“  (VV.  11  und  15)  und  bändigendem
       „Geist“  (VV. 8  und  20),  zwischen  positivistischer  Fesselung  (V.  12)  und  aor-
       gischem  Übermaß  im  „Irrgang“  (V. 23)  des  ungebändigten  Flusses.  Über  das
       Motiv des „Stromgeistes“  (V.  19)  rückt diese proteische  Ganymedfigur in die Nähe
       des kentaurischen  Chiron,  der ebenfalls in der Spannung einer dialektischen  Ver­
       mittlungsanstrengung steht (vgl. ‘Das Belebende’, KHA II: 772f.).


           Ganymed  übertrifft Ikarus.  Prometheus  dagegen  Übertritt die  Mitte  des

       ikarisch-herakleischen Ausgleichs  in  entgegengesetzter  Richtung:  er  bringt  den
       Menschen  das Feuer,  Inbegriff des  heroischen Vermögens zu  Arbeit,  Produktion
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