Page 159 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die ikarisch-herakleische Entgegensetzung 157
Lachmann 1966: 103f.) Hölderlins mythomessianisches Verfahren erhellt aber
gerade aus dieser Intensivierung des Assoziativen und Bildlich-Plastischen.
Ich fasse nun die Varianten der ikarisch-berakleiscben Entgegensetzung der
Klarheit halber noch einmal zusammen. Die literarische oder mythische Ent
gegensetzung einer Ikarus- und einer Heraklesgestalt führt zur Genese neuer
Mythologeme, und zwar
1. als Bild der „heroischen Freundschaft“ (Hamlin 1972/73) zum Dioskuren-
oder Zwillingsmythos (Hyperion/Alabanda; lyrisches Ich/ Eduard; Höl-
derlin/Sinclair);
2. als titanische Übertreibung und Warnung vor unrealistischem Übermut
zu den Hybrismythen wie Prometheus, Tantalus, Ixion.
Aus der (2.) resultiert (als 3. Mythenvariante) der prägnanteste Mythos der
proteischen Phase: das Bild des deutschen Intellektuellen als „Dulder Ulyß“.
Odysseus ist die geglückte Synthese aus der ikarisch-herakleischen Entgegensetzung
im Gegensatz zu den negativen Handlungsmustern von Gestalten, die an dieser
Entgegensetzung scheitern (Selbstmord von Alabanda und Empedokles, Eduards
Tod im Krieg).
Hier müßte sich analog zu den „prometheischen“, herakleischen und
proteischen Mythen eine (4.) komische Variane anschließen, wie sie etwa Diogenes
und Don Quichote verkörpern oder aber - mit Flugbildlichkeit versetzt -
Münchhausen bei Bürger oder Jean Pauls „Luftschiffer“ Giannozzo. Doch der
ironisierte Ikarus, der komisch fortlebt, scheint Hölderlin nicht weiter interessiert
zu haben. In einem Brief zählt Hölderlin sich einmal unter die „Gänse“, die mit
„platten Füßen“ im hesperischen „Wasser“ stehen und zum „griechischen Himmel
emporflügeln“ (vgl. KHA III: 334, ZZ. 6-13). Auch ironische Stellen im Hyperion
gehören in diesen Zusammenhang, z. B. über die „blutenden Fittige“ des
ungestümen Enthusiasten, dessen Absturz in die Realität vorbestimmt ist (vgl.
KHA II: 74, ZZ. 16-19). Andere ikarische Ironien sind Ausdrücke wie „Blei an die
Flügel binden“, ebd. 76, Z. 4; „Flügel ausreißen“, ebd. 46, Z. 26 oder „wie aus den
Wolken gefallen“, ebd. 41, Z. 1).
Die Odysseus-Episode, auf die Hölderlin in einer Vorfassung der Ode
‘Dichtermuth’ (V. 12) anspielt (vgl. Gaier 1993: 35lf.), zeigt den tragikomischen
Heldenentwurf. Als hilfloser „Schwimmer“ soll der Held auf Geheiß der Göttin
Leukothea nach einem Schiffbruch in die Fluten springen und stoisch ausharren,
bis er in „Alcinous Gefilde[n]“ strandet (vgl. ‘An die Unerkannte’, VV. 19-24).
Das Bild des heroischen Schwimmers erinnert dabei wie von ferne an einen abge
stürzten Ikarus, der mit den Fluten ringt (Odyssee V, 365ff.). Auch „seinen“
Herkules spricht Hölderlin einmal als „Schwimmer“ an (‘An Herkules’, VV. 25-
32; vgl. ‘An die klugen Ratgeber’, V. 23. Hyperion sieht sich einmal als einen
„Schwimmer“ in seiner „unendlichen Liebe“ zu Diotima (vgl. KHA II: 75, ZZ. 32-
36). Der Schwimmer ist wie die Gans eine burleske Fortführung des Ikarus-
Schicksals. Schwimmer und Gans sind die ironisierten Komplementärbilder zur