Page 158 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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           Museo  Capodimonte  in  Neapel  mit  dem  Titel  „Paesaggio  con  volo  di  Icaro“
           („Landschaft  mit  dem  Flug  des  Ikarus“,  Venedig  1606/07).  Das  Landschaftsbild
           zeigt  drei Szenen:  den Flug des Ikarus;  den  Sturz des Ikarus  und die  „Beerdigung
           des  Ikarus“  („Paesaggio  con  sepoltura  di  Icaro“).  Saraceni  malt  diese  Szene  (vgl.

           Metamorphosen VIII,  234f.)  ganz  in  der  Manier  einer  Grablegung  Christi:  Der
           trauernde Dädalus trägt  den fahlen und halbnackten Leichnam - im Hintergrund
           eine düstere Felsenhöhle - und am Himmel  zieht ein Adler  (!)  vorbei.  Die Frage,
           inwieweit  Ikarus  im  16.  und  17.  Jahrhundert  als  Präfiguration  Christi  gedeutet
           wurde  und  wie  diese  Vorstellung  auf das  klassizistische  18.  Jahrhundert  gewirkt
           haben könnte, verdiente eine eigene ikonographische Untersuchung.
               Ich konzentriere  mich daher im folgenden auf das Bild Bruegels, weil es viel­
           schichtiger und rezeptionsgeschichtlich  bedeutender ist.  Denn  in  der christlichen
           Lesart  offenbarte sich der Sturz des Ikarus als nur gerechte Strafe für die  „Sünde“
           seines Vaters Dädalus:  neidisch wie er war,  hatte der nämlich  seinen besten Schü­
           ler Talos  (den  genialen Erfinder der Säge)  von der Akropolis in  den Tod gestürzt
           (vgl.  Metamorphosen  VIII,  250-59).  Im  Bild  Bruegels  schaut  Talos  triumphierend
           in  Gestalt  eines  Rebhuhns  („Perdix“)  dem  fatalen  Geschehen  zu.  Für
           humanistische Bildbetrachter des  16. Jahrhunderts war das eine klare Analogie zu
           christlichen  Sinnsprüchen  wie  „bestrafter Neid“  oder zu  theologischen  Schemata
           wie  „Erbsünde“  (Wyss,  ebd.).  Ausgerechnet  Erfinder  wie  Dädalus  oder  Arbeiter
           wie  der  pflügende  Bauer  blieben  nach  humanistischer  Auffassung  vom  Paradies
           ausgeschlossen  und  mußten  die  Last  der  Erbsünde  durch  ihre  Mühsal  abtragen
           (ebd. 44f.).
               Für  die  typologische  Auffassung  der  Ikarusfigur  spricht  auch  ein  weiteres
           Element  christlicher Präfiguration  in Bruegels berühmtem Bild:  Im  Gebüsch  hin­
           ter dem pflügenden Bauern,  der achtlos gegenüber dem  Absturz des Ikarus seiner
           Arbeit nachgeht, liegt ein Erschlagener. Die kunstgeschichtliche Forschung deutet
           dies  als Anspielung auf die Geschichte von Kain und Abel  (Kain  erschlägt  seinen
           Bruder im Streit um eine Ackergrenze nach  1 Mo 4,  1-16; vgl. Wyss 1990: 43f.).
               Das  gesamte  Bildinventar  bei  Bruegel  trägt  dabei  eine  doppelte  Schicht  aus
           christlicher  Typologie  und  antiker  Mythologie.  Selbst  die  moderne  Stilisierung
           der  Ikarusfigur  zum  Vertreter  einer  solipsistischen  Kunst  bei  Benn  oder
           W. H. Auden,  die  verkannt  und  nutzlos  in  einem  Meer  der  alltäglichen
           Indifferenz  untergeht  (verkörpert  in  der  Passivität  der  Seeleute,  Hirten  und
           Bauern), ist bei Bruegel durchaus angelegt (vgl. Wyss  1990:  12-15).
               Damit  habe  ich  in  einem  ersten  Arbeitsabschnitt  Hölderlins  poetisches
           Verfahren  nicht  nur  rezeptionsgeschichtlich,  sondern  auch  ikonographisch
           grundiert.  Sich  auf  übergreifende  kunstgeschichtliche  Motivzusammenhänge  zu
           berufen und Hölderlin eine mehr künstlerisch intuitive Gestaltungsweise (als eine
           rein  theoretisch  reflexive)  zu  unterstellen  ist  in der Forschung selten,  aber gewiß
           nicht  neu.  So  hat  Eduard Lachmann  seine  großartige biblisch-kunstgeschichtliche
           Bildparallele zu Hölderlins „Wagen“ aus ‘Der Einzige’ III entsprechend begründet
           und  beschränkt,  eine  Motivspur,  auf  die  ich  noch  eingehen  möchte  (vgl.
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