Page 157 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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D ie ikarisch-herakleische Entgegensetzung      155


       1978:  57]  und  in  der  Übersetzung  der  zweiten  Pythie  Pindars,  KHA  II: 720,
      VV. 30-43 [vgl.  Seifen  1982:  528-536]; Jupiter  in  ‘Saturn  und Kunst’,  VV. 2ff.  und
       Tantalus im  Empedokles dritte  Fassung,  VV. 335-342.  Im  Gegensatz  zu  den

                           ,
      Knabenmythen  von  Ikarus,  Phaethon  und  Ganymed  haftet  diesen  Sterblichen
      nicht mehr die Naivität der tatfremden Jünglinge an, eine Naivität, vor der Helios
      den  Phaethon  warnt  (vgl.  KHA  II: 664,  VV. 30-37).  Die  alten  Heroen  sind
      vielmehr  titanische  Gestalten,  tief  verstrickt  in  die  hybride  Tat:  Prometheus
      mißbraucht das Feuer; Tantalus verrät Geheimnisse der Götter; Ixion geht mit der
      Göttermutter  fremd.  Hölderlins  literarische  Figuren  illustrieren  diesen
      Unterschied  von  Knabenmythe  und  Herosmythe.  Der  junge  Hyperion,  das
      lyrische Ich  der  frühen  und Tübinger Hymnen,  Armenion  aus  der  ‘Emilie’  sind
      dem  ikarischen  Knabentypus  zugeordnet.  Empedokles,  Alabanda  und  die
      Nemesisbrüder,  Eduard  (‘Emilie’),  Xerxes  (‘Der  Archipelagus’),  die  Xanthier
      (‘Stimme des Volkes’)  und die Titanen  (‘Der Mutter Erde’  u.  a.)  dagegen gehören
      zum prometheischen Hybristyp.
          Die humanistische Mythenrezeption  erkannte vor allem  in den Mythen von
      Ikarus  und  Phaethon  eine  besondere  Disposition,  als  Projektionsfläche  für
      christliches  Gedankengut  zu  dienen.  Andere  Lesarten  des  Ikarusmythos  setzten
      den Sohn des Dädalus auch mit Prometheus gleich, wenn es darum ging, den He­
      ros  des  großen  geistigen  Entwurfs  zu  personifizieren.148  Die  christliche
      Disposition  des  Ikarischen zu  untermauern  erscheint  ein  berühmtes  Bildbeispiel

      aus der humanistischen  Tradition  geeignet,  das den Ikarus- und Phaethonmythos
      zum  Thema  hat.  Die  Rede  ist  von  einem  Gemälde  des  Niederländers  Pieter
      Bruegel  dem  Alteren,  genannt  „Bauernbruegel“  (um  1525/30  bis  1569).  Das  Bild
      „Landschaft  mit  dem  Sturz  des Ikarus“  (Datierung umstritten:  um  1555/69,  vgl.
      Wyss  1990:  52)  reiht  sich  ein  in  die  typologische  Tradition  des  christlichen
      Denkens (siehe Abbildung Nr.  1). Die Konstellation Dädalus-Ikarus  (oder Helios-
      Phaethon in einer Vorstudie) wird dabei als mythische Parallele für den Gedanken
      der Erbsünde und Sühne gelesen (vgl. Wyss  1990:  38-46). Die typologische Ikarus-
      Interpretation läßt sich auch mit anderen Bildbeispielen belegen, so z. B.  mit dem
      Triptychon  des venezianischen  Malers  Carlo  Saraceni  (um  1580/85  bis  1620)  im



        148  Vgl.  dazu  folgende  Zusammenfassung  der  christlichen  Mythenrezeption  des  16.  und  17.
          Jahrhunderts: „Es dauerte nicht lange, da wurden Prometheus und sogar Ikaros wegen ihrer
          Neugier und  Risikobereitschaft als  positive  Vorbilder angepriesen.  Ikaros  wurde  mit  kei­
          nem Geringeren als Kolumbus, dem Entdecker Amerikas,  in Verbindung gebracht [...] In
          einem Emblem von  1666 wurde Prometheus  nicht mehr als besiegter Gott dargestellt, der
          an einen Berg geschmiedet war, sondern seine Hand berührte die Sonne, und der zugehö­
          rige  Sinnspruch  lautete:  ,Nil  mortalibus  arduus'  -  ,Für  den  Menschen  ist  nichts  zu
          schwierig*.  Und  noch  sehr  viel  konkreter  wurde  wenig  später  ein  niederländisches  Em­
          blembuch,  in  dem  1686  der  Flug  des  Ikaros  -  oder  Daidalos?  -  sehr  direkt  mit  einer
          anderen  säkularen  Entdeckung  der  Neuzeit  verknüpft  wurde  [nämlich  dem  Mikroskop,
          R. C.J:  ,Nil  linquere  inausum*  -  .Unterlasse  kein  Wagnis*  heißt  es  da  in  kaum  zu
          überbietendem Selbstbewußtsein.“ (Behringer u. a.  1991: 246)
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