Page 154 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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152 III. K apitel: D er Flug des G enius
65, 2). Der Entdecker Amerikas ist für Hölderlin beides zugleich: Held des ge
nialen geistigen Entwurfs (Navigation) und Held der Tat (Atlantikfahrt). Der
frühe Gedichtplan antizipiert bereits seine spätere Vorliebe für „Seehelden“ als
Ich-Ideal, die wie der antike Jason geistige und heldische Züge glücklich auf sich
vereinen (vgl. ‘Der Wanderer’, VV. 79ff., ‘Andenken’, VV. 37ff. und ‘Kolomb’,
VV. Iff.). Ausgerechnet im ‘Kolomb’-Fragment, erst überliefert im Homburger
Folioheft von 1806, ist auch eine Parallele zwischen Kolumbus und Moses ange
deutet (vgl. MHA III: 252). Das „Murren“ der Mannschaft auf der langen
Atlantikfahrt vergleicht Hölderlin nämlich mit dem Murren der Israeliten
während des Exodus. In einer verworfenen Verszeile verlangen die Matrosen nach
„Manna und Himmelsbrod“ (MHA III: 252; vgl. auch 2 Mo 16, 15 und Sattler
1983 II, 357ff.). Damit wird die Aus- und Überfahrt des Kolumbus zu einem
nautischen Exodus aus den Begrenzungen der Alten in die Freiheit der Neuen
Welt.
Michael Walzer hat die überbordende Exodus-Metaphorik in der politischen
und messianischen „Befreiungsliteratur“ dokumentiert (Walzer 1988: 83; 1990).
Ein passendes Beispiel für diesen Texttyp sind die Manifeste der Puritaner unter
Oliver Cromwell, die sich gegen das englische Königtum des 17. Jahrhunderts
richteten (Walzer 1988: 53-79). An einer Stelle vergleicht Walzer die Angst der
Israeliten vor den Strapazen der Wüstenwanderung mit der Furcht vor den
Weiten des Ozeans:
Die Menschen fürchteten sich in der Wüste so sehr wie auf dem Meer; sie empfanden
sich immer noch als ägyptische Sklaven, obwohl sie viele Meilen zwischen sich und
ihre früheren Herren gelegt hatten, (ebd.: 76)
Hölderlin selbst hat „Wüste“ und „Meer“ in einem solchen messianischen Zu
sammenhang analogisiert. In unmittelbarere Nähe zu seinem Bekenntnis zu den
„Seehelden“ stehen die Verse:: „Wo ich [...] den Mut erfreut’ am Ruhme der
Männer, / Ahnender Schiffer; und das konnten die Sagen von euch, / Daß in die
Meer' ich fort, in die Wüsten mußt’, ihr Gewalt’gen!“ (‘Der Wanderer’ II, VV. 79-
81).146
Und schließlich waren es die pilgrim fathers, die Väter des puritanischen
Chiliasmus, die als Verfemte ein Jahrhundert zuvor ihr Heimatland verließen, um
in das Gelobte Land Amerika auszuwandern und eine neue Gesellschaft zu
begründen. In Hölderlins Bilder- und Heldenwelt wird Kolumbus damit zum
heldischen Pendant einer geistigen Mosesgestalt wie Kant, den Hölderlin in
seinem berühmten Diktum mit Moses vergleicht (vgl. KHA III: 331, ZZ. 7ff.). In
Hölderlins eigenwilliger Phantasie bilden Kolumbus und Kant eine geistheldische
Synthese.
146 Vgl. dazu auch die kryptische Fügung über die Insel Kos aus ‘Patmos’ II, W . 56f.: „Die
benachbarte mit kühlen Meereswassem aus der Wüste / Der Flut, der weiten, Peleus“.