Page 153 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 153

Die ikarische Phase                    151

       unserer  Nation“  (KHA  III: 331,  ZZ.  7ff.)  ergänzen  sich  astronomische  und
       theologische  Begriffe  mit  den Flugbildern  zu  einem  einzigartigen  poetischen  Zu­
       sammenklang,   der  übrigens  auch  Hölderlins  enge  Verflechtung  von
       astronomischer  und  paulinischer  Terminologie  in  der  ‘Chiron’-Ode  vorweg­
       nimmt  (vgl. Kapitel V.2). Den mosaischen Führern und philosophischen Mittlern
       sind in der Geschichte der Menschheit stets die „Flügel“ des kühnen Neuentwurfs
       und das Vermögen zur geistigen Erlösung verliehen. Ungestüm „fliegen“ sie ihrem
       Volk wie Adler oder Ikarusse voraus:  Kolumbus,  Kopernikus,  Kepler,  Kant  und

       Rousseau  bilden  eine  Ahnenreihe  ikarischer Geistmenschen,  die  jeweils  eine
       entscheidende  Epochenschwelle  überflogen  haben.  Mit  Moses,  der  eine  Furt  aus
       Unfreiheit  und  Unterdrückung  an  der  Spitze  seines  Volks  durchschreitet,  rückt
       das Politisch-Heroische mit  in den Blick.  Der mythische Führer der Israeliten  ist
       ikarisch   und  herakleisch   zugleich:  seine  Herausführung  des  Volkes  aus
       „selbstverschuldeter  Unmündigkeit“  mahnt  auch  an  die  Dimension  des  Kämpfe­
       rischen und Politischen.
           Moses  als  politisch-spiritueller  Führer  seines  Volks  fällt,  historisch  genau

       gesprochen,  in  die  Kategorie  der  vor-  oder  protomessianischen Leitfiguren  des
       Judentums.144 Damit zerfällt das Bild der vormessianisch-mosaischen Leistung bei


       Hölderlin  in  eine  ikarische und  eine  herakleische Valenz.  Hier  die  Helden  des
       Geistes,  Philosophen,  Astronomen,  Evangelisten;  dort  die  politischen  Kämpfer
       und Könige, Fürsten und Führer. Im Umkreis der Tübinger Hymnik entsprechen
       dieser mosaischen oder heldischen Nuance die Gedichte an die großen Tatheroen.
       In  seiner  Herakleshymne  ‘Dem  Genius  der  Kühnheit’  monumentalisiert
       Hölderlin  den  griechischen  Helden  zu  einer  Mischung  aus  antiker  Nemesis  und
       apokalyptischem  Weltenrichter  (vgl.  „Taumelkelch  deines  Zorns“  bzw.  „Und
       opfertest der heil’gen Nemesis“, ebd. V. 60 und 64).145  Gedichte an Johann Jakob
       Thill  (1747-1772)  oder  Gustav  Adolf  (1594-1632)  ergänzen  diesen  Zug  des
       Messianischen  zum  Politisch-Tätigen.  Auch  dem  Schwedenkönig  verleiht
       Hölderlin  eschatologisches  Gewicht:  „Der  Segen  des  Ewigen  lohnet  dich  nur,  /
       Der  donnernde  Jubel  des  Weltgerichts.“  (‘Gustav  Adolf,  VV. 75f.)  Selbst  enge
       Freunde  und  bekannte  Zeitgenossen  wie  Christian  Ludwig  Neuffer  (1769-1839)
       und  Christian  Friedrich  Hiller  (1769-1817)  nimmt  er  in  die  Reihe  dieser
       messianisch gefeierten Gestalten auf (‘An Hiller’; ‘Lied der Freundschaft’).
           Sogar Kolumbus will  Hölderlin eine Hymne widmen,  wie er in  einem  Brief
       an Neuffer vom Dezember  1789  schreibt  (vgl.  KHA I: 538;  KHA  III: 64,  Z.  32  -



        144  Moses  wirkte  um  1250  v.  Chr.,  während  die  ersten  messianischen  Verkündigungen  der
           Propheten  aus  dem  8. Jahrhundert v.  Chr.  datieren.  Urzelle  messianischer Weissagungen
           ist Jakobs  Prophezeiung auf dem  Sterbebett, die  seinen  Söhnen einen  „kommenden  Hel­
           den“ verhieß (1 Mo 49,  10).
        145  Jochen Schmidt belegt die apokalyptische Nuance des „Taumelkelches“ mit Luther 0s 51,
           17;  22)  und  weist  die  Wendung  bei  Klopstock  nach  {Messias  XI,  620;  XII,  324;  vgl.
           KHA I: 580).
   148   149   150   151   152   153   154   155   156   157   158