Page 150 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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148 IE . K apitel: D er Flug des G enius
das gilt auch für den Dioskurenvergleich von Hyperion und Alabanda (vgl.
KHA II: 44, ZZ. 15-22).
Aber vor Hölderlins mythomessianischen Flugbildern, die ich unter dem
Ikarischen zusammenfasse und von konventioneller Topik abgrenze, muß zu
nächst die Feinunterscheidung innerhalb des weiten Bilderfeldes von Beflügelung
und Flug interessieren. Pierre Bertaux hat die Flug- und Vogelmotive ins Zentrum
seiner Untersuchung des „oioonistischen“ Wortfeldes gerückt
(„Oioonistik“ = Vogelkunde).139 Wie die Angelos- und Hermesgestalten sind die
Vögel seit der Antike die Mittler zwischen Göttern und Menschen, werden sie
ihres Gesanges wegen als die tierischen Ahnen der Dichtkunst verehrt, lesen
Auguren aus ihrem Flug die Zukunft (Oioonistik, Mantik).
Hölderlins Gebrauch der Flugtopik unterteilt sich in explizite und implizite
Formen. Einzelne Wendungen, Metaphern oder Gedichtzeilen sind dabei stets
auf ikarische Valenzen zu prüfen. Oft grundiert die Flugvorstellung Hölderlins
mythopoetische Schreibweise wie ein Wasserzeichen. So muß man z. B. viele
seiner Namensetymologien gegen das Licht dieser idee fixe halten, um eine
Flugimplikation auszumachen: „Hyper-Ion“, der „Darüberhingehende“
(= schwebende)140 Titan Helios mit Sonnenwagen und Flügelrössen; oder
„Kolomb“, der in Hölderlins eigensinnig etymologisierender Schreibweise nur
noch entfernt an den ornithologischen Ursprung dieses Namens von columba,
Taube, erinnert.141
139 Bertaux zielt vor allem auch auf die politische Semantik der Flugmetaphorik, die in Aus
drücken wie „vogelfrei“ zur Geltung kommt: „Die Vögel: eine Welt für sich, doch zugleich
uns so nahe, uns von oben mit so scharfen Augen beobachtend, einen Begriff des
„Göttlichen“ im Sinne Hölderlins vermittelnd.“ (Bertaux 1984: 69)
140 Vgl. Odyssee I, 8: „hoher Sonnenbeherrscher“ und ebd. XII, 262: „hochhinwandelnder
Helios“ (Übs. nach Voss); dazu auch GL: 46 und Fehlangabe in KHA I: 572.
141 Für die französische Form des Namens, „Colomb“, hat Pierre Lefebvre sogar eine histori
sche Person als mögliches Vorbild für Hölderlin ausgemacht: „Colomb war auch
bekanntlich der Familienname der Mutter des Seehelden Alexander von Humboldt, den
Hölderlin seit langer Zeit, zumindest über Vermittler, kannte.“ (Lefebvre in
Härtling/Kurz 1994: 18). Dazu noch ein Kuriosum: Es lebte in Frankreich tatsächlich ein
Mann namens „Coulomb“, der sich mit wahrhaft „ikarischen“ Plänen trug: der Erfinder,
Physiker und Ingenieur Charles Augustin de Coulomb (1736-1806), der zur regen Flugde
batte des 18. Jahrhunderts einige groteske Berechnungen beisteuerte. Der Astronom Joseph
Jerome de Lalande (1737-1807) polemisierte im Rückgriff auf Erkenntnisse Coulombs ge
gen die Flugvorhaben seiner Zeit: „Herr Coulomb, Mitglied der Akademie der
Wissenschaften, hat vor mehr als einem Jahre in einer unserer Sitzungen ein Manuskript
verlesen, in welchem er, auf Erfahrung gestützt, durch eine Berechnung der menschlichen
Kräfte nachweist, daß man dazu Flügel von 12 000 bis 15 000 Fuß Größe benötigen würde,
die mit einer Geschwindigkeit von 3 Fuß in der Sekunde bewegt werden müßten. Nur ein
unwissender Narr kann auf die Verwirklichung so phantastischer Ideen hoffen [...]“ (zit. n.
Behringer u. a. 1991: 310)