Page 152 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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eine Flugfigur, wie er sie für alle großen Vordenker und Künder imaginiert:
Rousseau, der den Deutschen als Adler vorausfliegt; Johannes, der vom
Logosadler nach Patmos entführt wird; Hyperion, der den deutschen
Musenjünglingen polemisch den „wächsernen Flügel“ ihrer Gedankengespinste
vorhält und sich selbst als „Hyper-Ion“ stilisiert, der das Erlösungsideal wahrt.
Jochen Schmidts Forschungen haben ergeben, daß Hölderlins Ode von der
Ikonograpie des Kepler-Grabmales angeregt worden sein könnte. Schmidt macht
auch eine mögliche Quelle aus: Johann Jakob Azels Schreiben über einen Versuch
in Grabmälem nebst Proben im 2. Stück des Wirtembergischen Repertoriums der
Literatur 1782 (im folgenden zit. n. KHAI: 540). Darin heißt es:
Die Urne, mit mathematischen Instrumenten umgeben, stehet auf einem voll
kommenen Würfel, wo in einem Basrelief Kepler vorgestellt ist, welchem die in die
Sphären deutende Astronomie Flügel gibt. Newton folgt der Fackel nach, die ihm
Kepler darhält. (KHA I: 540)
Die messianische Bedeutung Keplers als Personifikation des bahnbrechenden
Neuentwurfs, der sich wie ein Ikarus über alle Mittelmäßigkeit erhebt, erhellt
aber erst aus folgender Volte, mit der man das Figurenfeld im Umkreis der
Kepler-Ode erschließen kann. Die astronomische Metaphorik ist nämlich nach
der Flugtopik eine weitere dominierende Semantik der Tübinger Gedichte. Das
hat seinen Grund nicht nur in der traditionsbewußten Gewichtung der Astro
nomie im Tübinger Curriculum, z. B. durch den Stiftsprofessor Christoph
Friedrich Pfleiderer (vgl. Jacobs 1989: 132 [Aktenstück V von 1792]). Auch für die
Genese des deutschen Idealismus bildeten astronomische Denkfiguren geeignete
Grundmuster (vgl. dazu Schmidts brillante Kommentierung der ‘Chiron’-Ode,
KHA I: 812ff.). Begriffe wie „Revolution“ oder „exzentrische Bahn“ politisierten
bzw. ästhetisierten astronomische Termini. Auch Kant verglich seine kritische Be
sinnung auf die Grenzen der Vernunft mit einer Kopernikanischen Wende der
Philosophie (vgl. Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft,
1787).143 Wie der Krakauer die Heliozentrik festgeschrieben hatte, so reklamierte
der Königsberger für sich, die Ratiozentrik des aufgeklärten Zeitalters begründet
zu haben (weg vom Ansich der Gegenstände, hin zu den Grenzen der Vernunft).
Mit Hölderlins (erst 1799 geprägtem) Diktum von 1789: „Kant ist der Moses
143 „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser
fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem [sie!] Er
kenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis
derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden,
etwas festsetzen soll. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopemikus
bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort
wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob
es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die
Sterne in Ruhe ließ.“ (Kants Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft,
Kant 1965 [1787]: 19, Z. 37 - 20, 11)