Page 151 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die ikarische Phase                    149



           Explizit ist  ein  Flugbild,  wenn  es  den  Flugvorgang  beschreibt,  das  Bild  der
        „Flügel“ oder des „Fittigs“  bemüht oder den Vogelvergleich  (z. B.  mit  dem Adler)

        ausdrücklich  leistet.  Implizite Flugtopoi  sind  alle  indirekten  Anspielungen  und
       Verbrämungen der Flugmetaphorik, manchmal nur noch in einem Verb enthalten
        (z. B.  „schwingen“)  oder  in  verwandte  Motive  verschoben  wie  „Bogen“,  „Bahn“,
        „Stern“,  „Meteor“/„Komet“,  aber  auch  Metaphern  aus  dem  Wortfeld
        „Berg“/„Tal“, „Himmel“, „Wolke“ usw.
           Wie  rasch  ein  implizites Flugbild sich  als  ikarisch erweisen  und  mit  den  Ar­

        beitsbegriffen  aufgeschlüsselt  werden  kann,  zeigt  Hölderlins  Tübinger  Ode
        ‘Keppler’.  Hölderlin  huldigt  darin  dem  Sohn  des  Tübinger  Stifts,  dem  Astro­
        nomen  Johannes  Kepler  (1571-1630),  als  großem  Vorfahren  und  Vorbild.
        Zunächst  feiert  Hölderlin  den  Vordenker  der  revolutionären  Planetengesetze
        („Suevias  Sohn“)  durch  die  lyrische  Stimme  Isaac  Newtons  (1643-1727)  mit  fol­
        genden  Worten:  „Du  begannst,  Suevias  Sohn!  wo  es  dem  Blick  / /   Aller
       Jahrtausende schwindelte; /  [...] Ich vollends!  denn  sie ist groß,  ernst  und groß,  /
        Deine Bahn, höhnet des Golds, lohnet sich selbst.“  (‘Keppler’, VV.  16f. und 23f.)
            Subtil  legt  Hölderlin,  dem  großen  „Denker  in  Albion“  (Albion  =  England,
        es  handelt  sich  also  um  Newton;  V. 9)  mit  dem  Wort  „Bahn“  (V. 24)  eine
        immense Doppeldeutigkeit in den Mund.  Zum einen brach Kepler mit seinen drei


        Planetengesetzen  (Astronomia  nova, 1609;  Harmonibus  mundi  libri  V, 1619)
        tatsächlich der Erkenntnis über die elliptische Bewegung der Planeten  „bahn“  und
        vollzog  damit  den  entscheidenden  Übergang  zwischen  der  Kreisbahnvorstellung
        des  Kopernikus  (De  Revolutionibus  orbium  coelestium  libri  VI, 1543)  und  der

        Newtonschen  Gravitationstheorie  (Philosophiae  naturalis  principia  mathematica,
        1687). Zum anderen aber lobt Hölderlins lyrischer Newton den großen Kepler als
        autonomes  Genie  auf  seiner  (Flug)Bahn,  das  alle  Fesseln  und  Grenzen  sprenge.
        Gerade  mit  einer  Übergangsfigur und  einer  geistigen  Leistung,  die  zwischen  den
        Epochen  und  Extremen  vermittelte  (harmonistisches  versus  mechanistisches
        Weltbild),  identifiziert  Hölderlin  also  indirekt  seine  eigene  poetische  Sendung.
        Die „Autonomie“ Keplers bleibt dabei innerhalb des idealistischen Horizonts fest
        einer  harmonistischen  und  metaphysischen  Weitsicht  verhaftet.142  Die
        Vorstellung von der „exzentrischen Bahn“  des Künstlers und Vordenkers gewinnt
        so  an  Gehalt  (vgl.  ‘Fragment  von  Hyperion’,  KHA  II: 177,  Z.  10).  Indem
        Hölderlin  Kepler  als  exzentrischem  Genie  eine  „Bahn“  zuschreibt,  impliziert  er


         142  Für Hegel, der sich später selbst mit einer astronomischen Arbeit in Jena habilitieren sollte

            (De orbitis planetarum, 1801), spielte  die Gestalt  Keplers  ebenfalls eine  wichtige  Rolle:  er
            favorisiert ihn gegenüber Newton. Das Keplersche Denken bedeutete für Hegel den Primat
            des Metaphysischen vor der Physik, der Spekulation vor der Empirie und der Geschichts­
            philosophie  vor  der  vakuierten  Weltenmechanik.  Schon  der  Titel  von  Keplers  zweiter
            Hauptschrift  (De harmonibus) verrät, wie weit der Neuerer trotz aller „Modernität“ seiner
            Berechnungen  und  Beweise  einem  zutiefst  metaphysischen  Weltbild  verhaftet  blieb.
            Schließlich  kleidete  er  alle  seine  Erkenntnisse  im fünften Buch von De harmonibus  in  ein
            mythisch-mathematisches Modell musikalischer Sphärenharmonie.
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