Page 162 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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160                 III.  K apitel: D er Flug des G enius


           3.  Buch).  Hölderlin gestaltet diese messianisch-heroische „Wiederkehr“ der Götter
           in  ein  Land,  in  dem  sie  bereits  in  grauer  Vorzeit  waren,  gemäß  dieser  mytho-
           graphischen  Tradition  (vgl. Jochen  Schmidt,  KHA  I: 884f.).  Das  zeigen  folgende
           Verse der Hymne:

                         [...] Er [=   der Priester, R. C.] fühlt
                         Die Schatten derer, so gewesen sind,
                         Die Alten, so die Erde neubesuchen.
                         Denn die da kommen sollen, drängen uns,          30
                         Und länger säumt von Göttermenschen
                         Die heilige Schar nicht mehr im blauen Himmel.

                         Schon grünet ja, im Vorspiel rauherer Zeit
                         Für sie erzogen das Feld, bereitet ist die Gabe
                         Zum Opfermahl und Tal und Ströme sind            35
                         Weitoffen um prophetische  Berge,
                         Daß schauen mag bis in den Orient
                         Der Mann und ihn von dort der Wandlungen viele bewegen.
           Damit  rücken  die  Figuren  der  hesperisch-nationalen  Mythologie  ins  Blickfeld:
           Germania, Suevia, Hertha und Gaia - eine merkwürdig evolutionäre Wendung zu
           weiblichen  Mythen  übrigens  (vgl.  ‘An  die  Madonna’  als  weibliches  Pendant  zu
           den  Christushymnen).150  So  spiegelt  sich  die  angedeutete  Entwicklung  vom
           Heroisch-Männlichen  (Herakleskult)  zum  Messianisch-Weiblichen  (Madonna,
           Mutter Erde, weibliche Nationalallegorien)  auch  in den  Sophoklesübersetzungen.
           Zunächst verharrt Hölderlin bei Oedipus, dem patriarchalischen „Tyrannen“,  der
           noch  die  Starre  des  mythisch-tragischen  Zustandes  repräsentiert;  erst  in  der
           ‘Antigonae’  findet  er  dann  den  Keim  für  die  Überwindung  des Mythos  im  Zei­
           chen  des  Messianischen.  Im  Gegensatz  zu  Hegels  Antigone-Deutung,  der  das
           utopische  Potential  dieser  großartigen  Frauenfigur  verkennt  (und  im  ausglei­
           chenden  Kräftespiel  mit  der  männlichen  Machtfülle  Kreons  dialektisch  zähmt),
           spielt die Besinnung auf das Weibliche und seine messianischen Implikationen bei
           Hölderlin  eine  immer  bedeutendere  Rolle.  So  erklärt  sich  auch  die  Konjunktur


            150  Die germanistische Pietismusforschung hat im Kontext der „vaterländischen“ Gedichte um
               die  Jahrhundertwende  (Hölderlin:  ‘Germanien’,  ‘An  die  Deutschen’,  ‘Gesang  des
               Deutschen’  bzw.  Schiller:  ‘Von  deutscher  Größe’)  den  „spirituellen“  Charakter
               hymnischer  Begriffe  wie  „Liebe“,  „Freiheit“,  „Sprache“  oder  „Stille“  betont.  Gerhard
               Kaiser  hat  gezeigt,  daß  diese  Topoi  einem  „spirituellen  Patriotismus“  im  Geiste  des
               deutschen  Pietismus  geschuldet  sind  (vgl.  Kaiser  21973:  180-204).  Vorstellungen  wie  das
               „himmlische  Vaterland“  überhöhten  demnach  einen  institutionell  verfaßten  deutschen
               Staat ins Geistige, den es real nicht gab. Aber diese These von der Sprach- und Kulturkom­
               pensation  mißachtet  die  politisch-revolutionäre  Durchschlagskraft  des  messianischen
               Logos, die von Hölderlins  „Gesang“  und „Blume des Mundes“  ausgeht.  Außerdem haben
               die  genannten  Leitbegriffe  (außer  der  „Stille“)  auch  eine  messianische  Bedeutungsge­
               schichte. Vor allem ignoriert dieser Ansatz die Lebendigkeit und Körperlichkeit konkreter
               Helden- und Erlöserfiguren in Hölderlins Spätwerk.
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