Page 161 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Proteische und dionysische Phase            159



                  3.3  Proteische „Nachtgesänge“ und dionysische Spätphase

      Die „Nachtgesänge“  verweigern  sich  dem  Beflügelungs-  und Schwebezustand  der
      Tübinger  Hymnen.  Nacht-,  Strom-  und  Wintermetaphorik  treten  an  die  Stelle
      von  „Licht“,  „Sonne“  oder  „Schwebe“.  Das  fast  noch  anakreontische  Mythen­
      personal  der  frühen  Hymnik  gerinnt  zu  den  Mythisierungen  der  proteischen
      Gestalten: ein sentimentalisch gesteigerter Ganymed tritt in der mythisierten Fas­
      sung von  ‘Der  gefesselte  Strom’  an  die  Stelle  des  beschwingten  Götterlieblings

      Ganymed  im  Hyperion (vgl.  KHA  II: 64,  ZZ.  16-18).  Die  Vorliebe  für  die
      tragischen Mythen der späten Übersetzungen (‘Oedipus der Tyrann’; ‘Antigonae’)

      kündigen  sich  mit  dem  Untergang  des  Empedokles  an.  Im  Hyperion wird  der
      „Dulder  Ulyß“  (KHA  II:  170,  Z.  22)  zur  mythischen  Entsprechung  der
      verkannten  „Musenjünglinge“.  Odysseus  vertritt  als  „Bettler  im  eigenen  Hause“
      die strahlenden Heraklesgestalten der Tübinger Zeit.
          Die dionysischen Mythen leben dann in den  „Vaterländischen Gesängen“  wie­

      der auf  (‘Der  Rhein’).  Schwellengedichte  (‘Wie  wenn  am  Feiertage...’,  ‘Brot  und
      Wein’,  ‘Dichterberuf’)  begründen  das  späte  Dionysosbild  Hölderlins,  das  sich
      schließlich  synkretistisch  auffächert  zum  „Kleeblatt“  der  drei  (Halb)Götter  in
      ‘Der Einzige’.149  Die  „Nachtgesänge“  brechen  aber  nicht  nur mit  dem  ikarischen
      Pathos; sie beschwören auch erstmals die großen hesperischen Mythen wie Hestia,
      die Göttin des heimischen Herdfeuers, oder chthonische Titanen wie Vulkan und

      die Erdmutter Gaia. Herakles gewinnt in der proteischen Phase eine ausgesprochen
      westliche  Bedeutung.  Die  letzte  Triade  der  ‘Friedensfeier’  behandelt  das
      Hesperidenabenteuer,  wogegen  in  den  frühen  Hymnen  mehr  die  universalen,
      menschheitsorientierten  Arbeiten  des  Heros  im  Mittelpunkt  standen.  Diese
      Hesperisierung des  Herakles  ist  besonders  in  der  Chiron-Ode  auffällig.  Herakles
      ist  dort  in  seiner  Arbeiterrolle  als  kommender  „hesperischer“  Typus
      charakterisiert,  als  ein  „moderner“  Messias,  der  Erlösung  bringt,  wogegen
      Prometheus  am  Felsen  des  Kaukasus  lediglich  auf Erlösung  harrt  und  damit  als
      Gestalt  des  Griechisch-Orientalischen  überwunden  scheint.  Neben  Herakles
      verleiht  Hölderlin  in  der  Scheltrede  auch  den  deutschen  „Musenjünglingen“  mit
      seinem Odysseus-Vergleich eine besondere hesperische Aura.
          Ein  weiteres  Beispiel  für  die  Hesperisierung  des  Heroischen  liefert  die
      Hymne ‘Germanien’.  Tacitus überliefert  nämlich  im 3.  Kapitel  von De origine et

      situ  Germanorum  Liber (98  n.  Chr.),  daß  Herkules  und  Odysseus  schon  einmal
      Germanien  besucht  hätten,  wo  sie  so  tiefen  Eindruck  auf  die  Vorfahren  der
      Deutschen  machten,  daß  sie  in  deren  Liedern  und  Gesängen  weiterlebten  und
      Grabmäler  mit  griechischen  [sic]  Inschriften  an  sie  erinnerten  (Germania ,



       149  Wie  von  Herakles,  Prometheus  oder  Ganymed  gibt  es  auch  eine  ikarische  und  eine
         proteische  Stufe des Dionysosmythos. Hölderlins frühe Dionysosvorstellung ist noch stark
          dem Aorgischen verhaftet (vgl. ‘Dem Genius der Kühnheit’, VV. 5-8)
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