Page 163 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Proteische und dionysische Phase            161


      von Begriffen und Mythen wie  „Heimat“  (Suevia/Germania),  „Erde“  (Gaia)  oder
      „Herd“  (Hestia)  im Spätwerk.  Die germanische Mythologie aus der Maulbronner
      und Tübinger Zeit  belebt  er dagegen nicht neu  (z. B.  Hermann/Arminius, Mana,
      Thuiskon).  Bei  seiner Bildersuche  stößt  Hölderlin  vielmehr  auf die  hesperischen
      Strom-Mythen  (Rhein, Neckar, Ister/ Donau)  und Fürstennamen.  Zuletzt ersetzt
      er die proteischen  Mythen endgültig durch universelle Naturchiffren.
          Bevor  ich  die  Exposition  der  mythologischen  Arbeitsbegriffe  abschließe,
      möchte  ich  den  Übergang  von  der  „frühen“  zur  „späten“  Phase  in  Hölderlins
      Werk an einem Gedichtbeispiel sichtbar machen.151  Vor allem das Phänomen der
      ikarischen  Erinnerung im proteischen Zustand ist dabei interessant:  Flugmotive er­

      scheinen im Mahlstrom der Bilder verwandelt und bleiben doch erkennbar.  Dazu
      vergleiche  ich  im  folgenden  zwei  parallele  Strophen  der  Chiron-Ode  und  ihrer
      Vorform,  der  Ode  ‘Der  blinde  Sänger’  (vgl.  Schmidt  1978:  16-99).  Die  ikarische
      Harmonieseligkeit  des  naiven  Bewußtseinszustands  flackert  immer  wieder  als
      ferne Reminiszenz der einstigen Naturbegeisterung im proteischen  Zustand auf:

          Der Blinde Sänger  (=  erste Fassung)   Chiron (=  zweite Fassung)
      Und um die Wälder sah ich die Fittige   Das wilde Feld entzaubernd, das traur’ge, zog
       Des Himmels wandern, da ich ein Jüng-  Der Halbgott, Zevs Knecht, ein, der gerade
                             [ling war;  [Mann;
        Nun sitz ich still allein, von einer   Nun sitz’ ich still allein, von einer
         Stunde zur anderen und Gestalten  Stunde zur anderen, und Gestalten

      Aus Lieb und Leid der helleren Tage  Aus frischer Erd’ und Wolken der Liebe
                             [schafft                           [schafft’,
       Zur eignen Freude nun mein Gedanke   Weil Gift ist zwischen uns, mein Gedanke nun
                    [sich [...] (W .  17-22)  [...] (VV.  17-22)
      Bis  in  die Details  stimmen  die Verschiebungen  im  Verlauf der Fassungen152  mit
      den spekulativ  erarbeiteten Merkmalen der mythologischen  Arbeitsbegriffe über­
      ein:  Die  ikarischen  und herakleischen  Phasen werden vom proteischen  Standpunkt
      aus wahrgenommen.153 Dabei ähnelt die fieberhafte Suche nach neuer Gestalt den



        151  Dies  stets  eingedenk  der Tatsache,  daß  Hölderlins  kreative  Zeit  als  Dichter bis  1806  gut
          zwei  Jahrzehnte  umfaßt,  wenn  man  die  Denkendorfer  Schülergedichte  mitzählt.  Eine
          „Apotheose des Frühen“  (Jacob Taubes) oder umgekehrt: eine Stilisierung des Späten wäre
          daher fehl am Platze. Mit „früh“ und „spät“ orientiere ich mich lediglich chronologisch in­
          nerhalb des Werks.
       152  Zweimal kommt in der Handschrift neben dem Bild vom „Fittig“ (FHA  10: 257, Z. 54) in

          der Erinnerung  an  den  naiv  ikarischen Zustand  auch  das  Verb  „fliegen“  vor  (ebd.  ZZ. 47
          und 57).
       153  Zur  Melancholie  bei  Hölderlin  vgl.  Braungart  in  Lawitschka  1989/90/91:  111-140
          (Bibliograhie ebd.  131,  Anmerkung Nr.  67;  darin vor allem  die Studien von  Hans-Jürgen
          Schings und Franz Loquai).
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