Page 164 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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162                 III.  K apitel: D er F lu g des G enius


           überhitzten  Einbildungen  des  Melancholikers.  Die  „Fittige“  (‘Sänger’,  V.  17)  er­
           innern  an  die Geborgenheit,  das  naive Einheitsgefühl  der Jugendzeit,  wie  sie  sich
           in  der  gehäuften  Flugmetaporik  in  den  Briefen  des  jungen  Hyperion  wider­
           spiegeln,  als  er von  Adamas  auf der Insel  Tina erzogen  wurde.  Ton  und  Duktus
           der Strophe erinnern wie von ferne an die Verse  ‘Da ich  ein Knabe war’ oder die
           hymnische  Elegie ‘An  den  Äther’,  wo  sich  ebenfalls  Flugbild  an  Flugbild  reihte.

          Herakleisch erscheint  dagegen  die Beschreibung  des  „geraden  Mann[es]“,  nämlich

           „Zevs Knecht“  (‘Chiron’,  V.  18),  der die Erinnerung an  die  ikarische Gestalt  von
           einst  in  dieser  Fassung  überlagert  und  ersetzt.  Herakles  spiegelt  Chirons  Natur­
           verlust,  der sich wehmütig in die Gestalten  seiner Einbildungskraft versenkt.  Die
           Feldarbeit  des  Herakles  ist  die  praktische  Entsprechung  von  Chirons  theore­
           tischem Verstand, der Sterne, Kräuter und Tiere kundig erforscht und benennt.
               Der  Ikarusmythos,  implizit  oder  explizit  auf den  reinen  Geistmenschen  im

           idealistischen  Überschwang  angewandt,  wird zu proteisch ironisierten  Spuren  der

           Flug- und Vogelmetaphorik - zur Reminiszenz des ikarischen Zustandes von einst.
           Säkulare  Begriffe  wie  „Natur“,  „Kunst“,  „Strom“  oder  „Heimat“  hypostasieren,
           wie Jochen Schmidt gezeigt hat, zu Saturn, Jupiter, Ganymed oder Vulkan.
               Hymnische  Titel  in  den  „Nachtgesängen“  (wie  ‘An  die  Hoffnung’)154  er­
           innern  an  die  Hymnen-Euphorie  von  einst,  die  Gedichte  an  die  Freiheit,
           Schönheit, Menschheit usw. Innerhalb des proteischen Verwandlungsprozesses ver­

           schiebt Hölderlin  die Begriffe und setzt  sie einander komplementär entgegen:  aus
           Enthusiasmus  wird  Resignation,  aus  Hybris  erwächst  Melancholie,  aus  Begei­
           sterung   die   stoische   Apathie,   aus   „Blödigkeit“   („[S]chüchtern[heit]“,
           ,,[S]chamhaft[igkeit]“,  „[V]erzagt[heit]“  oder  „[S]chwach[heit]“,  vgl.  Stanitzek
           1989:2)  der  „Mut“,  der  als  „Dichtermut“  an  die  Stelle  der  herakleiscben
           „Kühnheit“ der Frühzeit tritt.

               Eine  weitere proteiscbe Steigerungsform  bildet  die  positive  Verwendung  des
           Ikarischen in den Fragmenten ‘Wenn Vögel langsam ziehen’  oder ‘Der Adler’, die
           ein  fast  restauratives  Fürstenlob  zelebrieren.  Diese  Restitution  des Ikarischen  ist
           eine  Art  der  affirmativen  Ironie,  die  die  „Ironie  des  Schicksals“  in  der  biogra­
           phischen  Orientierung  Hölderlins  um  1800  wiedergibt,  als  die  revolutionäre
           Begeisterung verebbte und die  großen patriarchalischen Einzelgestalten wieder an
           Bedeutung  gewannen  (z. B.  in  der  Person  des  Landgrafen  oder  der  Prinzessin
           Auguste von Hessen-Homburg). Das reflektiert auch Empedokles’ berühmtes Lob
           auf  einen  „neu[en]  Retter“  in  der  dritten  Fassung  des  Dramas  (V. 372),  der  die
           drohende  Destruktivität  der  „wildjen]  Menschenwelle“  (V. 413)  aufhalten  soll,




            154  Dieser  „Nachtgesang“  evoziert  durch  seine  Nähe  zu  dem  Vorentwurf  unter  dem  Titel
               ‘Sapphos Schwanengesang’ sogar ganz unmittelbar die Flug- und Vogeltopik der ikarischen
               Phase. Auch die „Fahnen“ in  ‘Hälfte des Lebens’  (V.  14)  haben eine ikarische  Implikation:
               Versteht man die „Fahne“ als metallene „Wetterfahne“, so evoziert die zweite Strophe ein
               sehr gelungenes proteisches Gegenbild zu den „Schwänen“ der ersten Strophe (V. 4): den ro­
               stigen Wetterhahn eines Kirchturms, der tot und kalt im Winde „klirrt“.
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