Page 166 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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164 III. K apitel: D er Flug des G enius
Schließlich denunziert schon die zeitgenössische rationalistische Polemik die
messianische „Schwärmereiy“ mit Krankheitskategorien (z. B. „Wahn“ bei
Heinrich Corrodi). Und auch Soziologie und Sozialpsychologie bringen
apokalyptische Erregung, Mythogenese und Pathologie immer wieder eng
zusammen.158
Ich fasse zusammen. In der dionysischen Phase favorisiert Hölderlin Ding
metaphern, die in ihrer Struktur eine Einheit der Vielfalt symbolisieren wie
Orgel, Traube, Dolde, Kleeblatt. Das synkretistische Sich-Durchkreuzen der Bil
derströme und Gedankenstränge überwiegt. Das Dingliche und Stoffliche
überlagert das Figürliche der Herosmythen, ein Prozeß, den die Hinwendung
zum „vielnamigen“ Dionysosbild nach sich ziehen muß, denn der Gott droht sich
bereits in der antiken Mythologie in der Unzahl seiner Namen (Io, Evier, Jachus,
Zagreus), seiner Metamorphosen (Stier, Bock) und Attribute (Efeu, Phallus,
Thyrsos, Weinrebe) aufzulösen. Dennoch lassen sich in Hölderlins Dichtung
selbst in den flüchtigsten Hypostasen des Dionysischen figürliche Spurenelemente
freilegen. In der dinglichen Bilderwelt von Flügel, Feuer, Pflanze und Strom
erhalten sich stets Restfigurationen, die an die Mythengehalte des Ikarischen,
Herakleischen und Proteischen erinnern. Die relativ schwache Indikation der
dionysischen Dingsymbolik (ganz im Gegensatz zur Überfülle der Flugmetaphorik
im Frühwerk) bedingt allerdings eine Asymmetrie des viergliedrigen
Mythenschemas.
158 Ygj (Charles Mackay: Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds, London
1841 (vgl. Mackay 1995)