Page 165 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Proteische und dionysische Phase 163
etwa im Sinne des „Katechon“ oder „Aufhalters“ bei Carl Schmitt (vgl. Jan und
Aleida Assmann/Hartwich, Taubes 1993: 181). Diese Ironie im späten Wieder
aufleben der Flugbilder spiegelt die politischen Entwicklungen, die den großen
einzelnen wieder mehr Bedeutung verleihen, wie z. B. Napoleon mit dem Beginn
der Revolutionskriege 1792 oder den Fürsten auf dem Rastatter Kongreß 1798.
Diese ironische155 Anwendung der proteischen Flugbilder verweist auf einen
komplexen Zusammenhang. Hölderlin verwendet die ikarische Motivik nicht nur
als Bild für Hybris und Exzentrität. Er vereint darin auch die Dialektik von Ge
nialität und Wahnsinn: „Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe“,
schreibt er aphoristisch im ersten der beiden Theoriefragmente ‘Reflexionen’
(KHA II: 519, ZZ. 24f. - Hervorhebung original). In der Begeisterungsfähigkeit
des überdurchschnittlich begabten Geistmenschen, in der Disposition zu Beflü-
gelung und Enthusiasmus sind beide Möglichkeiten angelegt, das Vermögen zur
Menschheitserlösung und das Scheitern des einzelnen, Messianität und Turm-
schicksal. Dieser problematische Charakter des genialischen oder messianischen
Anspruchs manifestiert sich nirgends so anschaulich wie in der Flugmetaphorik.
Der Flug des Geistes und der Begeisterung, der Genius als Adler, der seinem
Volke vorausfliegt, verdeutlichen die positive Seite dieser Dichotomie; der Volks
mund dagegen bedient sich oft der gleichen Bilder, wenn er den negativen Aspekt
ausdrücken will, etwa „den Boden unter den Füßen verlieren“ oder „über den
Dingen schweben“ für Überspanntheit und Verrücktheit (vgl. Röhrich 21995: V,
1679/2ff.). Diese Verwendung ikarischer Bilder im proteischen Zustand ist die
ästhetisch bewußt kalkulierte Vorstufe zu jener unwillkürlichen „List der Ein
falt“, die Bart Philipsen für den späten Hölderlin nach der Zäsur von 1806
reklamiert (vgl. Philipsen 1995: 9-27). Sind die „Proteuskünste“ der metamor-
photischen Steigerung noch rationales Kalkül, so ist diese „List der Einfalt“
höchstens noch die Unwillkürlichkeit eines tragisch von „Apoll geschlagenen“
Dichters (KHA III: 466, Z. 21). Nicht umsonst stellt Philipsen sein Einleitungs
kapitel unter das Motto aus dem Scardanelli-Gedicht ‘An Zimmern’, in dem Höl
derlin die Fürsorge seines Pflegevaters mit „Dedalus’ Geist“ vergleicht (Philipsen
1995: 9ff.). Dädalus ermahnt in der berühmten Stelle bei Ovid seinen Sohn Ikarus,
ihm immer in der Mitte zwischen Himmel und Meer nachzufliegen (vgl.
Metamorphosen VH , 203f.).
Die gesamte psychologische156 und sozialhistorische157 Erforschung von Höl
derlins Krankheit und „Wahnsinn“ müßte sich angesichts der
mythomessianischen Werkdeutung der Frage stellen: Inwieweit spielen nicht auch
religionspsychologische Faktoren in Hölderlins Pathogenese eine wichtige Rolle?
155 Beißner listet die anderen wenigen Belegstellen für „Ironie“ bei Hölderlin auf:
‘Dichterberuf’, V. 64; ‘Gebet für die Unheilbaren’, V. 2; ‘Die Liebe’, V. 2; ‘Brot und
Wein’, V. 112. Eine Flugmetapher findet sich nicht darunter (StA I: 486, ZZ. 6-10).
156 Vgl. z. B. Bertaux 1936, 1978; Peters 1982
157 Vgl. z. B. Münkler 1979, 1991; Weinholz 1990