Page 167 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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IV.  Ikarus, Christus und Johannes

           1.  „Herakles Bruder“ Ikarus: der Doppelcharakter des messianischen Mittlers

                               1.1 Das göttliche Kleeblatt

       Die  ikarischen Wesenszüge  des  lyrischen  Ich,  wie  sie  sich  im  Topos  der
       „magischen  Flugreise“  in  den  Christushymnen  offenbaren,  werde  ich  später  ge­
       nauer  betrachten  (‘Der  Einzige’  I,  VV.  13-35;  ‘Patmos’  I,  VV. 20-45).  Die  Figur
       der Selbsterhebung jedenfalls  bleibt  dem  lyrischen Ich  bis zuletzt  erhalten.  Zwar
       ist  das  ikarische Bilderfeld in  der späten  Plymnik proteisch  gebrochen,  doch  dient
       es bis in  die feinsten  Spuren  von Flugimplikation und Erhebungstopik dazu,  den

       Mitwirkungsanspruch der Geistinstanz,  die Präsenz der vita contemplativa, hinter
       allen  Mythisierungen  und  Vergöttlichungen  zu  zementieren.  Je  flüchtiger  diese
       messianische  Selbststilisierung  des  Dichters  bildlich  oder  mythisch  noch  faßbar
       ist,  desto  „fester“  behauptet  sich  der Dichter als  gleichsam  mitschwingend,  wenn
       er  Christus,  Johannes,  die  hesperischen  Fürsten  oder  die  antiken  Götter  und
       Heroen anruft. Die ikarische  Facette des messianischen Ichs, der „Fluggeist“,159 um
       einmal  ein Wort  im Sinne Hölderlins zu prägen,  durchweht  seine gesamte Poesie
       -  bis in die spätesten Entwürfe und Pläne hinein.
           In  der  ersten  Fassung von  ‘Der Einzige’  (=  ‘Der  Einzige’  I)  setzt  Hölderlin
       sich als lyrisches Ich auf ungemein „kühne“ Weise mit dem berühmten „Kleeblatt“
       der antik-abendländischen  Göttertriade in  eins:  Der Dichter tritt  als  (lyrisch ver­
       mitteltes)  Subjekt  an  die  Seite  des  synkretistischen  Dreiergestirns  Christus,
       Herakles und Dionysos.  Er vermittelt zwischen den Himmlischen und den Sterb­
       lichen,  macht  ihren  unfaßlichen  Geist  als  „Gabe“,  die  der  Dichter  mit  seinem
       „Lied“  „verhüllen“  muß,  den  Unmündigen  mundgerecht  (vgl.  ‘Wie  wenn  am
       Feiertage...’,  VV. 54-60):  die  Sprachmacht  des  Dichters  begründet  seine
       Geschichtsmächtigkeit.  Diesen Anspruch läßt Hölderlin in folgender Formel gip­
       feln:

                     Die Dichter müssen auch
                     Die geistigen weltlich sein. (‘Der Einzige’ I, W .  104f.)
       Die  schamhafte  Zurücknahme  dieser  „kühnen“  Gleichsetzung  verschlüsselt  die
       dichterische Vermittlerrolle an der Seite und mitten unter den Göttern:
                     Es hindert aber eine Scham
                     Mich dir zu vergleichen
                     Die weltlichen Männer, (ebd. VV. 60-62)






        159  Vgl.  dazu  Hölderlins  typische  Wortprägungen,  wie  „Nachtgeist“,  „Feuergeist“,
           „Stromgeist“ „Gemeingeist“ oder auch „Geist des Neides“.
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