Page 168 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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166                   IV .  Kapitel:  Ikarus,  C hristus und Johannes

           Dieses Ineins von Selbststilisierung und Selbstverbergung des Dichters spiegelt die

           schillernde Gestalt  des dionysischen Gottesbildes,  wie sie Hölderlin  in  ‘Wie wenn
           am Feiertage...’  entworfen hat:  das Erscheinen und die  zugleich  notwendige Ver­
           hüllung  des  Göttlichen.  Im  folgenden  interessiert  aber  nur  die  mythopoetische
           Strategie, wie sich das lyrische Ich selbst setzt, indem es sich zugleich verflüchtigt.
           Nur wenn man Hölderlins Mythisierungstechnik als Komplementärverfahren be­
           greift,  in dem ein  Geistmythos  sich stets  mit  einem  Tatmythos paart,  kann man
           die  mythischen  Spurenelemente  dieser  Stilisierung  nachweisen.  Erst  mit  dieser
           These möchte ich über die bisherige Forschung hinausgehen.160
               Dieses  „Sich-selbst-in-der-Schwebe-Halten“  des lyrischen  Ich vereint zwei  ge­
           genläufige Tendenzen:  Zum  einen  wird  der  messianische  Anspruch  des  Dichters
           in  einem  pneumatischen  Sinne  vergeistigt  und  damit  universalisiert;  andererseits
           signalisiert  die Mythensubstitution eine  diesseitige  und  bildlich  greifbare Realität
           und Wirkmächtigkeit dieses Anspruchs:  der verborgene  „Ikarus“  verkündet  seine
           Rolle als kommender Herakles von morgen.
               Die  scheinbar  zu  neuer  trinitarischer  Vollständigkeit  integrierte  Form  des

           dionysischen Gottes  enthält  die Flugvorstellung  noch  in  letzten  Spuren,  wo  sich
           hinter der Dreieinigkeit  des  „Kleeblatts“  der ikarisch-herakleische  Doppelcharakter
           der Messiasfigur verbirgt:
                         Ich weiß es aber, eigene Schuld
                         Ists! Denn zu sehr,
                         O  Christus! häng’ ich an dir,      50
                         Wiewohl Herakles Bruder
                         Und kühn bekenn’ ich, du
                         Bist Bruder auch  des Eviers, der
                         An den Wagen spannte
                         Die Tyger und hinab                 55
                         Bis an den Indus
                         Gebietend freudigen Dienst
                         Den Weinberg stiftet und
                         Den Grimm bezähmte der Völker.
                         (‘Der Einzige’ I)

           Die Wendung „Wiewohl Herakles Bruder /  Und kühn bekenn’ ich“  (VV. 51f.)  ist
           doppeldeutig:  Die  Forschung  behauptet  (vor  allem  Schmidt  1990:  116-130),  daß
           mit  „Herakles  Bruder“  Christus  gemeint  sei,  so  daß  sich  sinngemäß  ergibt:



             160  Stellvertretend sei hier auf Jochen Schmidt verwiesen, der die maßgebliche geschichtsphilo­
               sophische Interpretation der Hymne vorgelegt  hat  (Schmidt  1990:  143-145). Eine wichtige
               Gegenposition  aus der älteren Forschungsliteratur bildet Joachim Rosteutschers  Deutung
               des  Dichters  als  eines  „Bruders“  der  drei  Götter  (Rosteutscher  1962:  109-129).  Im
               Gegensatz  zu  Schmidts  säkularisierender  Deutung  (der  Dichter  als  Kulturbringer)  hält
               Rosteutscher  am  unmittelbar  religiös-messianischen  Charakter  von  Hölderlins  Dichtung
               fest (der Dichter als Heilsbringer, vgl. Rosteutscher 1962: 5f.)
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