Page 169 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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D as göttliche „Kleeblatt                167

       Christus sei gleichsam die Brücke zwischen beiden heidnischen Sphären, das heißt:
       der heroischen des Herakles und der kulturstiftenden  des „Eviers“  (Kultname des
       Dionysos).  Denn  als größter Bruder von  beiden  (als  „Kleinod“  der Götterfamilie,
       V. 34) steht der „Syrier“ Christus (‘Brot und Wein’, V.  156) in der Mitte zwischen
       dem Herakles des Westens und dem Dionysos des Ostens.  Die pneumatische Ge­
       stalt  Christi  mache die Synthese zwischen Antike und Christentum perfekt,  weil
       sie  gleichsam  elastisch  genug ist,  um  die beiden  griechischen  Halbgötter  mit  sich
       und untereinander zu vereinigen.
           Aber  die  mythische  Substruktur dieser Passage  ist  komplexer,  zumindest  in
       einer  zweiten  Lesart.  Der  vorangestellte,  versrhythmisch  gestaute  Nebensatz

       („Wiewohl  Herakles Bruder“, V. 51)  kann sich auch auf das lyrische Ich beziehen.
       Die  rhetorische  Figur  entspräche  damit  einem  Apokoinu,  einer  Stilfigur,  die
       einem  Satzglied  den  Bezug  auf  zwei  andere  Satzglieder  einräumt  (vgl.  Wilpert
       '’1979: 38/1-2 und Schmidt KHA I: 661). Das Ich in Vers 52 leitet demgemäß nicht
       nur  die  Aussage  von  Vers  53  ein  („du  /  Bist  Bruder  auch  des  Eviers“),  sondern
       kann  auch  auf  Vers  51  („Wiewohl  Herakles  Bruder“)  rückbezogen  werden  (zur
       Deutung des Dichters als Götterbruder vgl. Rosteutscher 1962:  109ff.).
           Diese  Lesart  unterstützt vor  allem  die  adverbiale  Ergänzung  „Und kühn be­

       kenn’ ich, [...]“  (V. 52), in der das Adverb  „kühn“  zweifelsfrei auf das lyrische Ich
       bezogen  ist.  „Kühn“  ist  nicht  nur  die  unorthodoxe  Vergleichung  Christi  mit
       Dionysos.  Mit  seiner  „Kühnheit“  reklamiert  das  Ich  des  Dichters  auf  subtile
       Weise,  ein  Bruder  des  Herakles  zu  sein.  Denn  die  Kühnheit  ist  für  Hölderlin
       schon seit jeher eine herakleische  Tugend (vgl. ‘Dem Genius der Kühnheit',  VV. 21;
       26;  49  bzw.  66  und  die  Fülle  der  „kühnen“  Tugendattribute  in  den  anderen
       Heraklesgedichten,  wie  ‘Das  Schicksal’  oder  ‘An  Herkules’).  Das  Ich  cha­
       rakterisiert  sich  also  als  in  seiner  „Kühnheit“  mit  Herakles  verwandt.  Dabei
       bedeutet  diese  „kühn“  postulierte  Verwandtschaft  von  Ich  und  Herakles  keine
       Identität  beider.  Denn  der  Geistmensch,  der  sich  hinter  der Maske  des  lyrischen
       Ich  verbirgt,  setzt  sich  der herakleischen  Sphäre  von  Tat  und  Kühnheit  lediglich
       harmonisch  entgegen,  sieht  in  seiner  geistig-theoretischen  Natur  die  Notwen­
       digkeit tätiger Vervollkommnung und komplementärer Ergänzung. Auch Vers 53

       („Bist Bruder auch des  Eviers“)  kann  zwanglos  als  Parallelisierung  mit  dem  lyri­
       schen Ich verstanden werden. Es ergibt sich: Du, Christus, bist genauso ein Bruder

       des  Dionysos  wie  ich  ein Bruder  des  Herakles  bin.  So  wie  das  „Ich“  am  „[D]u“
       von  Christus  „hängt“,  hängt  Christus  mit  Dionysos  zusammen.  Indem  das  lyri­
       sche  Ich,  der  Heraklesbruder,  Christus  als  Dionysosbruder  anspricht,
       verschränken sich beide Brüderpaare.
           Diese  Deutung  macht  folgenden  Sinn.  Mit  den  mythologischen  Arbeits­
       begriffen  gelesen,  ergibt  sich  an  dieser  Stelle  die  Figur  einer  impliziten  ikarisch-
       herakleischen Entgegensetzung von  Dichter-Ich  und  Heraklesfigur.  In  den  Oden

       ‘An Eduard’ und ‘Die Dioskuren’ hat Hölderlin diese „heroische Freundschaft“ in
       das Gewand des Zwillingsmythos gekleidet  (vgl. Hamlin 1971/72). Auch die Apo­
       strophen  („Anrufungen“)  der  Herakles-Gestalt(en)  in  den  frühen  Hymnen  ‘Das
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