Page 170 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 170
168 IV. K apitel: Ikarus, C hristus und Johannes
Schicksal’, ‘Dem Genius der Kühnheit’ und ‘An Herkules’ sind als solche implizi
ten oder expliziten Entgegensetzungen zu lesen. In der ersten Fassung der Ode
‘An Eduard’ kommt es sogar zu einem reziproken Bildgebrauch, bedingt durch
die ikarisch-berakleische Grundspannung: Das lyrische Ich identifiziert sich mit
einer Ganymedgestalt, die sich danach sehnt, von seinem kühnen und starken Ge
genpart fortgetragen zu werden; dabei werden dem heldischen Eduard
„Schwingen“ angedichtet, die heroische Seite als „beflügelt“ imaginiert (‘An
Eduard’ I, VV. 37-40). Ein besonders schönes Beispiel, das vor Augen führt, daß
Ikarisches und Herakleisches nur zwei Facetten desselben Erhebungstopos sind.
Hölderlin will also sagen: Ich, der ikarische Geistmensch bin ebenso ein
„Bruder“ des Tatmenschen Herakles wie „du“, Christus, ein „Bruder“ des heid
nischen Sinnengottes Dionysos bist. Der Akzent von Versöhnung und
Verschmelzung liegt also nicht primär darauf, daß „sie alle“ Götter und Brüder
seien; vielmehr wird die Komplementarität der verschiedenen Sphären in Gestalt
eines harmonisch entgegengesetzten Doppelpaars einander gegenübergestellt: hier
das Brüderpaar ikarischer Geistmensch und herakleischer Tatmensch bzw. Halb
gott, dort das Brüderpaar von „knechtischem“ Künder einer Entsagungsreligion,
Christus, und dem „königlichen“ Protagonisten eines rauschhaften Mysterien
kultes, Dionysos.
In der harmonisch entgegengesetzten (und damit wiederum integrierten)
Viererschar von Brüdern ist auch die Allversöhnung angedeutet. Eine
kombinatorisch anmutende Chiffre mag dies verdeutlichen: Die rhetorische Wie
dergabe der Figur des harmonisch entgegengesetzten Doppelpaares ist der
Chiasmus, chiffriert im „chi“ (X) des Wortes Christos (Xpiotoq). Die kreuzweise
Verschiebung der Bezüge ähnelt zwar hier nur entfernt dieser rhetorischen Stil
figur, dennoch sei an die Chiasmen im berühmten Revolutionsmanifest des
Empedokles erinnert, eine Stelle, an der sich der Philosoph ausgerechnet des
Dioskurenmythos bedient.161 Die chiastische Entgegensetzung der lyrischen In
stanzen ergibt folgendes Schema:
161 In der ersten Fassung der Tragödie läßt Hölderlin seinen Empedokles an bezeichnender
Stelle in der chiastischen Kunstform sprechen, wie schon im Kapitel „Vom Dualismus zur
Dialektik“ gezeigt wurde, vgl. KHA II: 340 VV. 1524-27). Es handelt sich um Empedokles’
Feier des „Friedensgeistes“ (ebd. V. 1516) und seinen Aufruf zu Güterteilung und
Geistgemeinschaft: „[...] dann reicht die Hände / Euch wieder, gebt das Wort und teilt das
,
Gut / O dann ihr Lieben - teilet Tat und Ruhm / Wie treue Dioskuren [...].“ Eindeutig
,
sind hier Geistsphäre („Wort“, „Ruhm“) und Wirklichkeitsbereich („Gut“, „Tat“)
chiastisch nach dem Schema a-b-b-a einander gegenübergestellt. Das Bild eines utopischen
Güterkommunismus gipfelt grandios im Mythos der beiden Zwillinge Kastor und Pollux.
Hölderlins theoretische Reflexion des „Harmonischentgegengesetzten“ ist Reflex seiner
Beschäftigung mit dem sizilianischen Vorsokratiker und seiner Elementenlehre.