Page 193 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Typologie der Johannesgestalt             191


           Dieses Phänomen der synkretistischen Nähe zeigt sich schließlich auch in der
       Metaphorik:  das  Bild  der  „Himmelsleiter“,181  der  „Stufen“  und  göttlichen
       „Treppen“  ähnelt  der Gebirgsmetaphorik.182 Immer wieder macht Hölderlin von
       dieser  Stufenstruktur  im  Sinne  einer  messianisch-mythogenetischen  Typologie

       Gebrauch  (und  zwar  organisch-naturhaft als  Dolden-,  Trauben-  oder  Ge-
       birgsstruktur; und mystisch-topisch  als Leiter-, Stufen- und Treppenbild).
           Bezieht  man  diese  vielgliedrige  Typologie  auf  die Johannesgestalt,  so  ergibt
       sich: als letzter Apokalyptiker wird Johannes von den Propheten präfiguriert.  Er
       selbst  beruft  sich  auf Jesaja  Qh  1,  23]),  einige  Gesichte  seiner  Offenbarung  erin­
       nern  an  die  Visionen  Daniels.  Die  synkretistische  Analogie  schließlich
       parallelisiert  das  christliche  Paar Johannes/Christus  mit  seiner  antiken  Entspre­
       chung  Herkules/Peleus  bzw.  Herkules/Philoktet  (VV. 53-57),  wodurch  die
       messianische Reihe in  eine rein mythische Typologie mündet,  nämlich die Vater-
       Sohn-  bzw.  Mentor-Schüler-Beziehungen  der  griechischen  Mythologie.  Erinnert
       sei hier an  die Vorstellungen von Jesus  als einem  „Herzenskünder“  (Herder)  und
       „Lehrer der Menschheit“  (Reimarus).
           Auch  die Väter der herakleischen Helden  geraten  Hölderlin  immer wieder in
       den  Blick:  Peleus,  der  Vater  des  Achill,  der  gleichsam  einen  „jungen  Herakles“
       personifiziert;  Odysseus,  der  Vater  des  Telemach;  Chiron,  der  Lehrer  Achills;
       Adamas,  der Erzieher  Hyperions  usw.  Wie  in  ‘Der Einzige’  läßt  sich  die Johan­
       nestypologie  an  der  Dialektik  von  Geist-  und  Tatprinzip  festmachen,  wenn

       Hölderlin  das  ikarisch  Johanneische  dem  heroisch Herakleischen harmonisch  ent­
       gegensetzt und die Protagonisten des Christentums den antiken Heroen annähert:

                     Johannes.  Christus. Diesen möcht’
                     Ich singen, gleich dem Herkules,  oder
                     Der Insel, welche festgehalten und gerettet, erfrischend,
                     Die benachbarte mit kühlen Meereswassern aus der Wüste
                     Der Flut, der weiten, Peleus.  (‘Patmos’ II, VV. 53-57)





        181  Zur „Himmelsleiter“ im Zusammenhang mit synkretistischen Namenslisten vgl.  die Frag­
           mente  Nr.  47  und  Nr.  66:  „Es  stach  /   Und  der  Ekel  mich  /   Ankömmt  vom  wütenden
           Hunger /  Friedrich mit der gebißnen Wange /  Eisenach /  Die ruhmvollen / /  Barbarossa /
           Der Conradin / /  Ugolino - I I  Eugen /  Himmelsleiter“ (KHA I: 437) und: „Eine beständige
           Vision ist aber /  nach der Himmelsleiter /  das Elysium“ (KHA I: 442)
        182  In  ‘Der  Einzige’  II,  W . 65-67  heißt  es:  „daß  nämlich  /   Das  Zeichen  die  Erde  berührt,
           allmählich  /   Aus  Augen  gekommen,  als  an  einer  Leiter“  (KHA  I: 349).  Jochen  Schmidt
           gibt in seinem Kommentar z. St. KHA I: 345, 71 einige Verse aus einer Variante der siebten
           Strophe wieder (vgl. dazu die Ergänzung der Teile von  ‘Der Einzige’ III in KHA II:  1496-
           99 bzw.  1499f., die nicht in KHA I aufgenommen wurden): „Und weiß nicht alles.  Immer
           stehet  irgend  /   Eins  zwischen  Menschen  und  ihm  /   Und  treppenweise  steiget  /   Der
           Himmlische  nieder.“  Zur  mythischen  Gebirgstopographie  vgl.  auch  ‘Unter  den  Alpen
           gesungen’ und ‘Ihr sichergebaueten Alpen’.
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