Page 195 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Typologie der Johannesgestalt             193


       Allerdings  negiert  Hölderlin  die  Parallele  von  Johannes/Christus  mit
       Herkules/Peleus zunächst mit dem folgenden Vers:
                     [...] Das geht aber
                     Nicht.  (‘Patmos’ II, V. 57f.)
       Diese  Zurücknahme  der  Mythisierung  der  messianischen  Erlösergestalten  folgt
       aber nicht dem Bilderverbot, das sich der Dichter in ‘Patmos’ I, VV.  162-166 auf­
       erlegt  (denn  sich  „ein  Bild  zu  bilden“  von  Gott,  ihn  zu  mythisieren,  entspräche
       einer Ästhetik der Nachahmung,  die „knechtisch“  ist [ebd.  VV.  169f.]). Hölderlin
       verschiebt  lediglich  die  Ebene  der  Bildschöpfung:  nicht  aus  dem  Repertoire  der
       mythischen Heroen sucht  er  Halt  und  Gestalt  für seine messianischen Typen;  er
       läßt  sie vielmehr  organisch  aus dem  Geflecht  der historischen  Genealogie  Hespe-
       riens  erwachsen.  Nicht,  daß  das  Göttliche  gestaltlos  wäre;  allein  die  körperliche
       Abbildungsweise  hat  ausgedient.  Das plastische  Prinzip  verlangt  nach  Ergänzung
       durch  das  Historische  (reale  Fürsten),  das  Organische  (geschichtsphilosophische
       Pflanzenbilder)  und das  Messianische  (biblische  Typologie).  Denn  die  historische
       Mythisierung hat der mythologischen Heroisierung die Kraft der naturhaften Un-
       ausweichlichkeit  voraus.  Das  „Wachstum  des  Rettenden“  (und  des  „Retters“  des
       Vaterlandes,  vgl.  ‘Patmos’  I,  VV. 3f.)  ist  naturgeschichtlich  notwendig  gedacht.
       Nur  so  ist  das  deutsche  „Schicksal“,  das  von  dem  griechischen  so  „anders“  ist,
       „(w)undervoller /  Reicher, zu singen“ (V. 58f.):
                     [...] Anders ists ein Schicksal. Wundervoller.
                     Reicher, zu singen. Unabsehlich
                     Seit jenem die Fabel. Und jetzt           60
                     Möcht’ ich die Fahrt der Edelleute nach
                     Jerusalem, und das Leiden irrend in Canossa,
                     Und den Heinrich singen. (‘Patmos’ II)
       Jochen  Schmidt  verweist  in  seinem  Kommentar  zu  dieser  Stelle  auf  eine  rätsel­
       hafte  Erweiterung  aus  dem  späten  Enwurf ‘Kolomb’,  wo  es  heißt:  „[...]  und  die
       Tempelherren  die  gefahren  /   Nach  Jerusalem  Bouillon,  Rinaldo,  Bougainville.“
       (KHA  I:  1008)183  Damit  rücken  die  Fürsten  der  abendländischen  Geschichte  in


        183  Die Assoziation der Kreuzfahrer mit der Entdeckungsfahrt des Kolumbus ist nur auf den
           ersten Blick kryptisch. Wie die Analyse von Hölderlins messianischer Mythogenese bisher
           gezeigt hat, ergänzen sich Mythologie, Geschichte und Messianität bei Hölderlin immer zu
           einem Ganzen. Bleibt ein Bereich fragmentarisch, so versprechen die beiden anderen Teil­
           mengen  von  Hölderlins  Bilderkosmos  Aufschluß.  Vor  allem  die  historischen  Stoffe  sind
           oft  gar nicht  bei  Hölderlin  selbst  zu  finden.  Ein  Blick  auf Schillers  Parallelgedichte  ‘Die
           Johanniter’  und  ‘Kolumbus’  genügt,  um dem assoziativen Skelett bei Hölderlin soviel  hi­
           storisches Hintergrundmaterial zuzusetzen, daß die Querverbindung deutlich wird: Unter
           dem Titel ‘Die Ritter des Spitals zu Jerusalem’ und ‘Columbus’ erschienen die beiden Ge­
           dichte  im  Musen-Almanach für das Jahr  1796  (S.  90f.  bzw.  179).  Sie  sind  fast  zeitgleich
           entstanden  (Ende August bzw. September  1795, vgl. Georg Kurscheidt, KSAI:  856f. bzw.
           920).
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