Page 192 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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190 IV. K apitel: Ikarus, C hristus und Johannes
ist unauflösbar mit der Sendung des Apokalyptikers als letzter Prophet
verbunden, der von Gott „bei den Locken ergriffen ist“ (Hes 8, 3; ‘Der Einzige’ II,
V. 89):
Allein, wo zweifach
Erkannt, einstimmig
War himmlischer Geist-, und nicht geweissagt war es, sondern
,
Die Locken ergriff es, gegenwärtig 179
Wenn ihnen plötzlich
Ferneilend zurück blickte
Der Gott [...] (‘Patmos’ I, VV. 126-132)
Diese Nähe der Menschheit zu Gott findet besonderen Ausdruck in der Gottnähe
einiger messianisch inspirierter, besonderer Menschen (Seher, Künder und Dich
ter), die wiederum einander nahe stehen. Die Geschichte bringt in unendlicher
Annäherung an das eigentlich bildlose, nur abstrakt geistige Regulativ, die
Gottesidee, eine Stufenfolge von Heroen, Halbgöttern und Messiassen hervor, die
einander ähneln wie die Treppen eines mythischen Gebirges: jedes messianisch
und mosaisch inspirierte „Haupt“ entspricht in diesem Bild einem „Gipfel“. Diese
Anthropomorphisierung des „Gipfels“ zum „Haupt“ ist vor dem Hintergrund
plausibel, daß Hölderlin in ‘Brot und Wein’ die Landschaftselemente als Mobiliar
eines Göttergastmahls dinghaft und menschengemäß denkt („Festlicher Saal! der
Boden ist Meer! und Tische die Berge“, V. 57).180
179 Den Begriff der „Gegenwärtigkeit“ deutet Jochen Schmidt „pneumatisch“ im paulinischen
Sinne. Damit wäre die „Gegenwärtigkeit“ und „Nähe“ des Himmelreiches allein als Einheit
der Gläubigen im Geiste des Herrn zu verstehen. Eine historische oder politische Aussage
wäre darin nicht länger enthalten. Diese Interpretation geht von einer Kongruenz der Be
griffe „Kraft“ und „Geist“ bei Hölderlin aus, so wie sie bei Paulus tatsächlich gegeben ist.
Allerdings ignoriert Schmidt (KHA I: 999f.) die mythischen Konnotationen der Formel,
wie Hölderlin sie vor allem im Hyperion entfaltet. Die Kraft-und-Geist-Formel ist bei
Hölderlin aber nur vor diesem mythisierten Subtext zu verstehen. „Kraft-und-Geist“
bezeichnet die dialektische Synthese nach einer ikariscb-berakleischen Entgegensetzung. Die
einseitige Verabsolutierung der Geistfacette in einem pneumatisch-paulinischen Sinne er
scheint daher nicht legitim.
180 Vgl. auch: „Wo die Wälder schauernd zu ihm [dem Rheinstrom], / Und der Felsen Häupter
übereinander / Hinabschaun [...]“ (‘Der Rhein’, VV. 19-21) oder die Verse der
‘Friedensfeier’, VV. 4-9: „[...] um grüne Teppiche duftet / Die Freudenwolk’ und
weithinglänzend stehn, / Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche, /
Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe, / Zur Seite da und dort aufsteigend über dem /
Geebneten Boden die Tische.“ Die markante Synekdoche des Typs „Teppiche“ für
„Wiesen“ und „Tische“ für „Berge“ ist übrigens ebenfalls eine prophetische Anleihe aus
Jesaja (vgl. Js 25, 6-12; dazu auch ‘Patmos’ I, VV. 42-45).